Überraschend wurde ich eines Tages in die alte Zeit zurückversetzt. Ich war in einer Privatwohnung beschäftigt, wo ich an einer wissenschaftlichen Veröffentlichung mitwirkte. Mein kleiner Sohn – nun, wie sein älterer Bruder, ebenfalls ein Grundschulkind und geübter ÖPNV-Nutzer – holte mich nach der Schule (in Tempelhof) von der Arbeit (im fernen Charlottenburg) ab, um mit mir zusammen nach Hause (nach Kreuzberg) zu fahren.
Neugierig sah er sich an meinem neuen Arbeitsort um. Er schien überrascht und kam, nachdem er noch einmal in der Wohnung umher gegangen war, mit der Feststellung zurück: "Ich habe es gleich bemerkt! Es ist genau wie in der COURAGE!" Die beiden Wissenschaftlerinnen, denen die Räumlichkeiten der Zeitschrift gut bekannt waren, verneinten höflich. "Doch", beharrte er, „– nur umgekehrt“ Die Räume verhielten sich spiegelbildlich zu denen der COURAGE.
Eine Zeitschrift wird vermisst
Die neue Wohnung war im Winter bei weitem nicht so kalt wie die alte. Sie war auch bei weitem nicht so dunkel wie die alte in jenem schattigen und fußkalten Hochparterre. Wir vermissten aber den kleinen Balkon, der zu klein war, um einen Stuhl mit allen vier Beinen darauf zu stellen, aber groß genug für ein schmales niedriges Regal, auf das sich mein älterer Sohn, kaum dass der Frühling es erlaubte, gern mit seiner Bettdecke zurückgezogen hatte, um Bücher anzuschauen (beziehungsweise, wie eine Freundin feststellte, als ich es noch zu übersehen versuchte, zu lesen).
Meine 15jährige Mitbewohnerin fand ihren Lieblingsort auf der Fensterbank ihres Zimmers, wo sie in aller Seelenruhe und über die Beunruhigung der Erwachsenen hinweg strickte und über das Leben nachdachte. Ein tiefer Sessel, nah ans Küchenfenster – und quasi in den sonnigen Süden – geschoben, ersetzte nach und nach, manchmal noch im späten Herbst und an sonnigen Tagen im Winter, den alten Balkon.
Beim Heizen, nun mit Gasetagenheizung und vom Gestank des Öls wie vom Feuermachen befreit, blieben wir sparsam. Kreuzberg lag am Rande der Welt. Noch gab es Frauenorte.
Vier, fünf Jahre – vielleicht sechs? – nach unserem Umzug. Eine Geburtstagsfeier in Kreuzberg, am Chamissoplatz.
Eine größere Runde von Frauen war zusammen gekommen, einige kannten sich, andere begegneten sich zum ersten Mal. Die Mehrheit liebedienerte einem Mädchen von vielleicht 3 Jahren, das, auf seinem Stuhl stand und dirigierte. Alle wollten ihm Gutes tun oder vielleicht einfach Geschrei vermeiden. Die Kleine verlangte mal dies, mal das, und bekam es auch, bisweilen gleich von zwei Seiten. Doch jedes Mal wies sie die Gabe mit einem schneidenden „Nein!“ erst einmal zurück. Dann besann sie sich aber und nahm das Gewünschte aus freier Entscheidung huldvoll entgegen. Ich war so sehr mit der Art des Kindes beschäftigt (von den Erwachsenen zu schweigen), dass ich beinahe die Frage überhört hätte.
"Was ist eigentlich mit der COURAGE?" erkundigte sich eine Frau in die Runde.
"Die gibt’s nicht mehr!" –
"Was?? Die gibt’s nicht mehr???"
Allgemeines Erstaunen. Wie kann es sein, dass eine Errungenschaft, zumal eine so große und feministische, an der „wir alle“ irgendwie mitgewirkt, nicht bleibt? Die COURAGE war eine Institution. Etwa nicht?
Was ist eigentlich mit der COURAGE? Die Frage wurde in den Jahren nach der Einstellung des Erscheinens noch oft gefragt. Auch gestaunt wurde noch oft, da es sie nicht mehr gab.
Die Mauer, der Mauerfall, das Mauer-Erbe
Vom Ende der COURAGE bis zum Mauerfall waren es fünf Jahre. Noch war Berlin eine geteilte Stadt. Meine Kontakte zu den „Frauen für den Frieden“ in Ost-Berlin waren unterbrochen; die COURAGE hatte Artikel über sie veröffentlicht und auch sonst aus der Kritik am DDR-System keinen Hehl gemacht. Meine „Einreise in die DDR“ war noch zu COURAGE-Zeiten untersagt, mein Visum mit einem Mal für ungültig erklärt geworden. „Wir sind Ihnen keine Begründung schuldig“, hatte ich am „Grenzübergang für Westberliner Fußgänger“ zu hören bekommen. Beendet waren damit auch meine oft nächtlichen Rückwege in den Westen – als West-Berlinerin hatte ich das Privileg genossen, statt Punkt Mitternacht erst um 2:00 Uhr früh ausreisen zu müssen.
Einreiseverbote betrafen soziale Bewegungen: Umweltbewegte, die AL (Alternative Liste) in West-Berlin bzw. DIE GRÜNEN, die Frauen- und Lesbenbewegung, die COURAGE. Wie sich herausstellte, waren diese Einreiseverbote eine Begleitmusik zum Niedergang der DDR.
Den Hass auf alles irgendwie Grüne, alles „politisch Korrekte“, das Gendern oder bloße Benennen der Geschlechter erkenne ich, wenn ich ihm heute begegne, als eine lange Entwicklung, als eine aggressive „Normalität“. Der aggressiv „Normale“ glaubt, nur im Land der Ausgrenzung sicher zu sein – vor Anglizismen, vorm Gendern, vor zu viel Gemüse. Da draußen, wo Demokratie herrscht, darf man ja seine Meinung, nämlich Wut und Niedertracht, den Zorn auf „die Eliten“, „die Politiker“, „Israel“, den „Staatsfunk“ usw., nicht mehr äußern, – ohne – und das ist das Schlimmste – mit Widerspruch („Verboten“!) rechnen zu müssen!
Heute, da die Mauer als Grenze zwischen Ost und West verschwunden ist, kommt es mir nicht selten so vor, als existiere längs wie quer dazu eine neue, aber gut wiedererkennbare Teilung. Sie verläuft zwischen Autoritären, die sich als Angegriffene oder, im Vergleich mit allgemein anerkannten Opfergruppen, als „eigentliche Opfer“ identifizieren, und Demokrat:innen, denen es oft schwer fällt zu verstehen, dass die Opferbehauptung der Autoritären vor allem eins ist: eine politische Angriffserklärung. Deshalb muss sie, statt mit Verständnis belohnt, zurückgewiesen werden. Eine Berichterstattung, die Unwahrheit in den Raum legitimen Meinungsaustauschs bittet, ist nicht ausgewogen, sie wird selbst unwahr.
Spinnweben
Erinnerung an eine Situation. Mein müdes großes (gar nicht großes!) Kind an der Hand, mein jüngeres schlafend auf den Schultern, wechsele ich ein paar Worte mit dem Dienst habenden Grenzer – über Schönheit. Die Grenzbeleuchtung erhellt Aberhunderte von Spinnennetzen im Gestänge des Brückengeländers der Oberbaumbrücke. In den Weben, vom Nachtwind leicht bewegt, glitzern Tautropfen.
„Haben Sie die auch gesehen?“ –
„Ja natürlich!“ –
„Gute Nacht!“ –
„Gute Nacht!“
Hinter unserer kleinen Gruppe fällt die Tür ins Schloss, geht die Grenze zu. Der Grenzer hat Dienstschluss. Wir gehen am dunklen Landwehrkanal entlang durch ein leises Kreuzberg nach Hause, an einem Sonntag, sehr, sehr früh.
Post vom MfS (Ministerium für Staatssicherheit der DDR), vielleicht 1986: das Einreiseverbot werde nicht aufgehoben. Unterzeichnet war der Brief mit dem Faksimile-Stempel von Erich Mielke – eine akribische – wie um Leserlichkeit bekümmerte – Grundschulschrift. Nichts hätte so gut wie diese Unterschrift jene fundamentale Ängstlichkeit des mächtigen Unterdrückers darstellen können.
Um die Mitte der 80er Jahre. Bleiben oder Nichtbleiben? Im Osten Berlins wurde diese Frage immer präsenter. In Ost-Berlin, hieß es, erzählten sich Leute nun schon in der U-Bahn, dass wieder jemand „einen Antrag gestellt“ habe (also auswandern wollte).
Anfang 1989. Ein Anruf aus Ost-Berlin. Bärbel Bohley, Irena Kukutz und Katja Havemann von den "Frauen für den Frieden" und der IFM (Initiative Frieden und Menschenrechte) hatten die Frau enttarnt, Monika Haeger, die sie als Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) für die Stasi (Staatssicherheit, Geheimpolizei der DDR)bespitzelt hatte. „Moni“ war bei ihnen und vielen anderen wie eine Freundin ein und aus gegangen, um anschließend ihrem Stasi-Führungsoffizier zu berichten, natürlich auch über Besucherinnen aus dem Westen.
Die Mauer fiel, nur Monate danach, am 9. November1989. „Moni“ gab Ende 1990 ein langes Interview, in dem sie ihre persönliche Geschichte, ihre Überzeugungen und überzeugte Täterschaft selbst darstellte.
Seltsame Tiere
Nachlese. Ein Zitat in Stasi-Sprache: „Mit der Zielstellung der Verhinderung einer republikweiten alternativen Frauenbewegung wird die Berliner Gruppe 'Frauen für den Frieden', die unter der Führung der operativ hinreichend bekannten Personen [es folgt eine Aufzählung] steht, in ZOV 'Wespen'[ZOV=Zentraler Operativer Vorgang] (…) operativ bearbeitet...“ So steht es in einer Akte, die heute im Stasi-Unterlagen-Archiv zugänglich ist. Die Stasi pflegte ein Arsenal von Namen, um ihre Opfer nach Stammtischart zu typisieren und zynisch zu verklausulieren. Hier also „Wespen“, schlecht gereimt, – auf „Lesben“.
Ein kleiner Witz auf die vermutlich universell langsam mahlenden Mühlen der Verwaltung: Als DDR-Bürger bereits, von Ost- wie West-Kontrollen unbehelligt, in West-Berlin die Läden stürmten, war, wie ich beim Versuch, auf die Ost-Berliner Seite der Mauer zu gelangen, feststellte, mein altes DDR-Einreiseverbot noch in Kraft.
Unser Buchhändler am Kottbusser Damm beklagte sich in jenen Tagen, nur Computer-Bücher würden noch gekauft – seine Spezialgebiete umfassten so gut wie alles, nur das nicht.
Schließlich machten sich „Mauerspechte“ über die auf ihrer Westseite bunt bemalte Mauer her – und ihre Beton-Bröckchen zu weltweit geschätzten Wohnzimmerdekorationen. Würde der Fall der Mauer die durch Stasi-Machenschaft unterbrochenen Ost-West-Verbindungen neu beleben? Ich hoffte es anfangs und hätte die Frage gern mit „Natürlich!“ beantwortet.
Doch diese automatische Konsequenz gab es nicht! Es konnte sie nicht geben.
Nachdenken über Ost-West-Verbindungen
Mit der DDR waren am Ende auch die spezifischen Defizite verschwunden, aus denen heraus jene besonderen Ost-West-Verbindungen entstanden waren. Wo Meinungs- und Presse-Freiheit fehlten, hatten DDR-Bürger („Bürgerinnen“ waren im DDR-Deutsch nicht vorgesehen) Wege gesucht, um an Informationen zu gelangen. Wo es die Gewaltenteilung nicht gab, so wenig wie Rechtssicherheit, versprachen persönliche Kontakte in den Westen manchmal einen minimalen Schutz. „West-Kontakte“ waren notwendig; sie verhießen Zugang zu sonst unzugänglichen Informationen.
Ein COURAGE-Sonderheft – das über Menstruation – kursierte einst in der DDR, ging verloren, und wurde auf Bitten ein zweites Mal „rüber“ gebracht (ich trug es unterm Hemd und war nachts zuvor damit schlafen gegangen, in der Vorstellung, es auf diese Weise vielleicht irgendwie zu „vergessen“ und an der Grenze weniger aufgeregt zu sein).
Im Westen wiederum waren Ost-Kontakte nicht minder, wenn auch anders, wertvoll. Im Westen versprachen unmittelbare persönliche Verbindungen in die DDR einen kleinen Einblick in sonst ebenfalls wenig zugängliche, wenig bekannte, auch wenig verstandene Verhältnisse. Schließlich konnte unter den Bedingungen von Antikommunismus, Kaltem Krieg und der Selbstabriegelung der DDR auch die Berichterstattung im Westen nur unzulänglich und verzerrt sein.
Ost-West-Verbindungen waren unter den gegebenen Bedingungen allerdings zwangsläufig ungleich, selbst wenn sie unverfänglich oder gar freundschaftlich zustande gekommen sein mochten (doch wer konnte das wissen). Im Unterschied zu ihren DDR-Gegenübern besaßen Westler und Westlerinnen grundsätzlich alles! Ob sie es selbst sehen wollten oder nicht, sie verfügten, zumindest theoretisch, über alle Möglichkeiten der Beteiligung am Gemeinwesen.
Dennoch versuchten viele im Westen – selbst entgegen eigenen kritischen Erfahrungen mit der DDR – so gut wie irgend möglich ihre Sympathien für „das andere Deutschland“ aufrecht zu erhalten. Die DDR hatte keine Scheu, sie zu verspielen.
Unter den Bedingungen der Teilung waren individuelle Ost-West-Verbindungen einseitig – unausweichlich einseitig. Denn sie waren selbst Teil der Teilung. Diese Verbindungen waren äußerst zerbrechlich und bargen schon deshalb die Tendenz in sich, am Ende genauso zu scheitern wie die Mauer selbst.
Vereinbarkeiten
Bald nach dem Mauerfall lief mein letztes Arbeitsverhältnis im alten (West-)Berlin aus – eine Maßnahme des Arbeitsamtes zur Arbeitsbeschaffung, kurz ABM. Ich arbeitete im Städtischen Krankenhaus von Spandau. Meine Aufgabe: ich sollte als ABM-Beschäftigte individuell angepasste Einsatzstellen für junge Arbeitskräfte ohne Schulabschluss ausfindig machen, die ihrerseits als ABM-Beschäftigte arbeiteten. Diese Einsatzstellen im weitläufigen Betrieb des Krankenhauses sollten den Jugendlichen neue Erfahrungen, vielleicht berufliche Perspektiven eröffnen und ihnen Mut machen. Ich hatte in den Grenzen des Krankenhauses mit seinen vielen Abteilungen und Facetten fast freie Hand und versuchte etwas, wofür ich zwar weder besondere Kenntnisse noch Erfahrungen hatte, aber Neugier und Interesse.
Mein Arbeitsweg, besonders die Fahrt mit U-Bahn und Bus von Kreuzberg nach Spandau, dauerte fast anderthalb Stunden, lang genug, um nebenher ein paar Texte zu korrigieren.
Ich erinnere die Zeit gern, nicht zuletzt der jungen Leute wegen, aber auch wegen meiner Chefin, die mir alle Freiheiten gewährte, wie ich sie für meine neuen Aufgaben brauchte.
Eine der jungen Schulabgängerinnen hatte ein Baby, das sie allein versorgte. Anders als ich für sie gehofft hatte, wollte sie in die Putzkolonne (wo ich noch keine „Stelle“ eingerichtet hatte) – unbedingt. Das erinnerte mich an mich selbst, wie ich zu Beginn meines COURAGE- Engagements unbedingt den – bis dahin unter allen COURAGE–Frauen aufgeteilten – Bürodienst machen wollte und auf interessantere Aufgaben nicht viel gab. Büroarbeiten waren zeitlich abgrenzbar und organisatorisch mit Haus- und Kinderarbeit eher vereinbar (Schreiben, Redigieren wollte ich nur auf Anfrage).
Die junge Spandauerin mit Baby war dann die einzige muttersprachlich Deutsche zwischen türkisch sprechenden Frauen, die einzige Junge unter Ältereren, die einzige mit einem so kleinen Kind. Sie wurde mit großem Mitgefühl in die Gruppe aufgenommen, „wie eine Tochter“, sagte sie nach dem ersten Arbeitstag..„Wie eine Tochter“, sagten auch die Kolleginnen, wenn sie von ihr sprachen.
Ein junger Mann, im Heim aufgewachsen (die Geschwister auf verschiedene Heime verteilt!), war mir als Analphabet angekündigt worden. Mir kamen Zweifel. Auf meine Bitte schrieb er etwas auf. Er schrieb ähnlich frei nach Gehör wie Kinder, die vor der Schule zu schreiben anfangen und etwa „GATN“ für Garten und „FLUKAFN“ statt Flughafen schreiben…
Eine Gruppe muslimischer Mädchen beklagten sich: „Frau Epple, unsere Brüder dürfen alles. Wir nichts!“ Eine hatte von ihrem Bruder erfahren, dass sich, nun da die Grenze zur DDR offen war, junge Türken mit Nazis aus dem Brandenburger Umland getroffen hatten. Die Männer waren sich einig geworden: Wir rühren eure Frauen nicht an!! Und ihr rührt unsere Frauen nicht an!! – – „Stellen Sie sich das mal vor!“
Schulkinder, Gutes und Schlechtes; Lieselotte…
Eine Zwölfjährige brachte die Krankmeldung für ihre große Schwester – und hatte ein eigenes Anliegen. „Kann ich Ihnen was erzählen? – Kann ich, wenn ich das Probehalbjahr nicht bestanden habe, noch zurück aufs Gymnasium?“ – Ein Lehrer hatte ihr übel mitgespielt. Sie hatte sich zu Wort gemeldet, als er behauptet hatte, Ausländer nähmen Deutschen die Arbeit weg. Sie wusste es besser und widersprach. Das hatte er nicht verziehen – mit gravierenden Folgen für sie. Nun nutzte sie den Moment für ihre Sache, die Rückkehr aufs Gymnasium, auf ein anderes. Wir schrieben zusammen einen Brief an eine mir unbekannte Schuldirektorin. Sie machte das Unmögliche möglich. Jahre später erreichte mich eine Email, ich antwortete. „Ich freue mich wie ein Keks“, schrieb sie zurück. Sie hatte studiert. Nicht nur das.
Es war für mich die zweite Begegnung mit einer jungen Frau, die zurück zur Schule wollte. Im anderen Fall hatte diese nach dem Tod der Mutter ihrem Vater den Haushalt geführt. und war, zunächst nur zu gerne, frühzeitig von der (Haupt-)Schule abgegangen. Bald bereute sie es. Eine Rückkehr war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte. Ich telefonierte für sie, die Schulen lehnten alle ab. Hanna-Renate Laurien (CDU), zwischen 1981 und 1989 Schulsenatorin von Berlin, fiel mir ein. Die junge Frau traute sich dort hin. Im Vorzimmer der Senatorin führte jemand weitere Telefonate für sie – mit Erfolg.
Schulgeschichten geschahen auch um mich herum. Meine Kinder gingen noch zur Schule. Sie waren geübt, die Schule als ihre Sache zu betrachten. Einmal war es mir aber schlicht unmöglich, bei meiner allgemeinen Nichteinmischung zu bleiben. Das Problem löste sich nach über einem halben Jahr auf, als ich – an meiner Arbeitsstelle in Spandau einen Anruf von meinem armen, geplagten Kind erhielt: „Eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: ich hab meine Monatskarte verloren. Und jetzt die gute: mit Modi ist alles paletti.“ Modi, das war der Lehrer…
Da ich bei den Elternsprechtagen für meine Kinder keine Kohlen aus dem Feuer holen musste und insofern frei war, ersannen sie für mich eine Art Elternsprechtag-Luxusaufgabe, der ich gerne nachkam: Lehrer:innen treffen, von denen sie viel hielten. „Du musst unbedingt Herrn X kennenlernen!“ „Frau Y ist spannend, du wirst ja sehen!“ So verbrachte ich schöne Minuten mit diesen Tollen und konnte nach fast schon exotischen Themen fragen – ihren Auffassungen von Schule und Unterricht, wie sie Veränderungen sahen, mit Unterschieden umgingen… „Wie findest du Frau Y!?? Was fandest du interessant?“, wurde ich zu Hause empfangen, „hast du gemerkt, warum ich Herrn X so gut finde?“
Gegen Ende der Sommerferien, die zu Hause bzw. bei uns in Kreuzberg vielleicht nicht so spannend sein mochten wie in einem „Urlaub“ oder auch nur wie die Schule selbst, tat eins meiner Schulkinder einmal einen tiefen Seufzer: „Ich vermisse Lieselotte!!!“ Lieselotte war eine engagierte, interessante und viel verehrte (von der Schulleitung mitunter gefürchtete) Lehrerin. Wenn der Lärm im Klassenraum überhandnahm, pflegte sie ein Angebot zu machen: Im Sekretariat liegen Abmeldeformulare! sagte sie dann wohl – und verstummte. Nach einem unerträglich langen Augenblick, dem auch die schlimmsten Krachmacher gern möglichst bald entkommen wollten, konnte der Unterricht weitergehen.
Im Stasi-Unterlagen-Archiv
Wir hatten Katzen. Nach Katzenart hatten sie mich genau analysiert. Auch gegen meinen Widerstand, wussten sie meine Aufmerksamkeit – und also ihr Futter – zu erlangen. Das Erfolgsrezept: Auf meinem Schreibtisch ein Blatt Papier finden und durch die Zähne ziehen, Fahrscheine, Briefe, Notizen, Einkaufszettel, Skizzen. Mittlerweile erkannte ich papierene Dinge an den Geräuschen. Eines Morgens meinte ich die alte Zeitung zu erkennen, die konnte der Kater von mir aus zerlegen. Ich rutschte tiefer unter die Decke – da war mir, als sei es der Antrag auf Akteneinsicht an die Stasi-Unterlagen-Behörde. Mit einem Satz war ich aus dem Bett. Der Kater rannte zur Küche, die andere Katze hinterher, alles wie immer.
Wochen später saß ich in einem Lese-Raum und sah meine Akte ein. Hier, in Lichtenberg, war die Stasi-Zentrale gewesen, jetzt das Stasi-Unterlagen-Archiv. Am 15. Januar 1990 war die Zentrale gestürmt und teils besetzt worden, von DDR-Bürgerinnen und Bürgern, die damit der Akten-Vernichtung ein Ende gesetzt hatten. Manches in meiner Akte war aus Datenschutzgründen geschwärzt, für mich selbst aber gut erkennbar. Überraschend tauchte in meiner Akte mein altes, verloren geglaubtes Adressbuch wieder auf!
Ebenfalls überraschend war, dass ich als Observierte seltsam bedeutend geworden war – als angebliches Mitglied der AL (Alternative Liste, später Grüne) sowie einer internationalen Gruppe von Lesben „mit Sitz in Berlin-Zehlendorf“. Als Objekt der Beobachtung war ich von meiner Spitzelin aufgewertet bzw. für ihre Auftraggeber quasi schöner gemacht worden…
Ein Brief an das Sandmännchen
Noch eine Überraschung: Ein Protestbrief meines älteren Sohnes, den er mir als Kindergartenkind diktiert hatte. Eines Abends war der Sandmann des Berliner Rundfunks (der DDR), anders als sonst, mit einem Panzer der Nationalen Volksarmee vorgefahren, statt mit einem jener immer gespannt erwarteten Fahrzeuge, ob Traktor, Bagger, Feuerwehr... Mein Kind, Bewohner einer Stadt von Kriegsdienstverweigerern, war empört, zumal er, wie viele West-Berliner Kinder, das Ost- dem West-Sandmann vorzog.
Das Sandmännchen des DDR-Rundfunks hatte nämlich die schönere Eingangsmelodie, engelhaft gesungen von einer Kinderstimme (Knabensopran?) – und den Sand! Das Beste am Ost-Sandmännchen aber war der „echte“ Sand, den es zum müde werden am Ende der Sendung ausstreute. Den hatte das West-Sandmännchen des Senders Freies Berlin nicht.
Vermutlich war der Brief ohne Umwege bei der Stasi gelandet, statt erst beim Rundfunk.
Der „Rote Teppich“
Die Aktenlektüre mobilisierte Erinnerungen. Zum Beispiel tauchte etwas, das ich schon fast vergessen hatte, wieder auf – nicht als Vermerk, sondern als etwas, das mir zu fehlen schien. Wo war der „Teppich“?!
Der „Teppich“ – das war ein von Buntheit strotzendes Ding, geknüpft und gewebt aus Stoffresten und Tüchern. Ich hatte ihn den „Roten Teppich“ genannt. Denn er hätte den Ost-Berliner Freundinnen als Gruß der mit Einreiseverbot belegten Westberlinerin ausgerollt werden sollen (auch wenn er zum Ausrollen in diesem theatralischen Sinn nicht lang genug war). Viel zu bunt um nur rot zu sein, als Teppich auch keineswegs unauffällig, war er als Botschaft dennoch wortlos und stumm (und sollte es sein: von der Stasi nicht zu entziffern).
Bis zur Vollendung hatte der Teppich-Gruß auf dem Fußboden meines Zimmers gelegen. Auch war noch ungeklärt, wie er „verschickt“ werden sollte.
Zwischenstück. Eine Zehnjährige, für den Nachmittag zum Spielen bei uns, entdeckte ihn gleich. In der Tür stehend, schaute sie neugierig in mein Zimmer hinein und fragte, ob sie „was machen“ dürfe. Was denn? Zur Antwort sprang sie mit Anlauf in einem Satz über den Teppich hinweg. Ich war einverstanden, und sie wiederholte ihre Hopser minutenlang – und erstaunlich leise (das Problem genervter Nachbarn war ihr wohl bekannt). Jedenfalls war der „Teppich“ zum hinüber und herüber Hopsen bestens geeignet. Wenn nicht gar prädestiniert!
Postalisch konnte er natürlich nicht verschickt werden. Er musste, am Körper getragen, persönlich nach Ost-Berlin gebracht werden – ein Teppich als Brief, ein Brief als Cape!
Die Brief- bzw. Cape-Trägerin beantragte ein Visum für West-Berliner Touristen und bekam es. Um sich an ihre ungewöhnliche Erscheinung in dem – auch schweren – Kleidungsstück zu gewöhnen, spazierte sie ein paar Mal am Bahnhof Zoo herum. Schließlich legte sie an einem Wochenende das Cape beherzt um ihre Schultern und brach nach Ost-Berlin auf, zu jenen legendären Friedensfrauen. Irgendwann, irgendwie muss das Cape, der Brief, der bunte „Rote Teppich“ und magische Anlass der wilden Hopserei eines Kindes verloren gegangen sein. Vielleicht kam er auch einfach in den Müll (ein nicht ganz leichter Gedanke).
Warum nur vermisste ich ihn unter den Beobachtungsschnipseln meiner Akte? Nun war er jedenfalls endgültig spurlos – und sogar aktenerwähnungslos! – verschwunden.
Lektor im Finanzministerium…
Als Jugendliche und aus den USA zurückgekehrte Austauschschülerin hatte ich von meiner Gastmutter, einer Züchterin von Gordon-Settern, einen Welpen bekommen; ich durfte ihn benennen – der Anfangsbuchstabe musste ein L sein. Mir fiel nur ein Name ein – Lektor!
Leider hatte ich Lektor noch als jungen Hund abgeben müssen, nachdem er, unerzogen, aber kräftig, meine Mutter bei Eis und Schnee zu Fall gebracht. Er war kein ganz einfacher Lektor. Als ich sein neues Frauchen besuchte und mit den beiden am Rhein spazieren ging, hatte seine Erziehung Fortschritte gemacht. Doch in einem Moment hatte er alles vergessen.
Denn wie von Geisterhand öffnete sich plötzlich ein Tor zu einem Park und schloss sich gleich wieder – vor uns, aber hinter ihm! Ein Tor des Finanzministeriums. Sekunden später stand er schon am Gebäude, wieder öffnete sich eine Tür automatisch, er verschwand, die Tür ging zu. Frauchen und ich standen starr vor Schreck. Schon öffnete sich die Tür wieder, Lektor erschien, rannte mit fliegenden Ohren durch den Park, das große Tor ging auf. Und Lektor verließ das Ministerium als freier Hund. Später bereiste er, der es, wenn man nicht aufpasste, auf Nylonstrümpfe abgesehen hatte, die Welt und heimste Preise ein, von Hundeschau zu Hundeschau. Er war ein gefragter Deckhund.
Ich muss Lektor im Hinblick auf meine Nach-COURAGE-Zeit unbedingt erwähnen, da ich dem Wink, den ich mir damals mit seinem Namen gegeben hatte, auch nach meiner Zeit bei COURAGE, wenn auch nie im Hauptberuf, bis heute gelegentlich noch folge – als Lektorin.
Zeitschrift in Sachen Frauen- und Mädchenbildung
Immer wieder landeten Texte bei mir, in diesem Fall erst einmal „nur Korrekturen“. Daraus wurde mehr, und ich arbeitete je nach dem – schreibend, redigierend, illustrierend… – einer kleinen feministischen Zeitschrift zu. Aus einem autonomen Netzwerk von Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen und anderen Bildungstätigen hervorgegangen, verdankte sie diesem auch den Namen: Frauen und Schule – Zeitschrift für Mädchen- und Frauenbildung.
Die Herausgeberin, Ursula Rieger, hatte, anfangs als arbeitslose Lehrerin, die Zeitschrift in der Nachfolge mehrerer Kongress-Dokumentationen gegründet; sie erschien zwischen 1985 und 1989 im Selbstverlag. Bildungswissenschaft, Bildungspolitik und Bildungsarbeit wurden darin in verschiedenen Perspektiven, Institutionen und Zusammenhängen beleuchtet, speziell die Geschichte der Koedukation, ihre kritische Reflektion und die sich weiter entwickelnde koedukative und koedukationskritische Praxis.
Das Anzeigengeschäft war marginal. Ehrenamtliche Arbeit und Interesse an anderweitig vernachlässigten Themen ermöglichten die Existenz der halbprofessionellen Zeitschrift.
Schwerpunkt-Themen waren: Leibesübungen von Ballett bis Karate; Allgemeinbildung; Frauenstärke damals – starke Frauen heute; Pädagogik des Unterschieds; Mädchen vor Entscheidungen. Das 22. Heft – Schwerpunkt „Revolutionen“ – war das letzte (wegen der mitgezählten Kongressdokumentationen erschien es als Nummer 26. Aus dem Inhalt: Von der Nahrungsfrage zur Politik (Florence Debray, im Gespräch mit Dominique Godineau); Olympe de Gouges (Gisela Thiele-Knobloch); Zur Zeit der Französischen Revolution in England: Mary Wollstonecraft; Die Weiber werden uns noch den ganzen Kommunismus verderben (E.-M. Epple); „Die Freiheit führt das Volk an“ – und die Frauen an der Nase herum…(über Abbildungen in Geschichtsbüchern, Brigitte Dehne).
Die Mini-Rubrik „Noch LANGE aktuell!“ mutete den Leserinnen der Frauen und Schule schlaglichtartig pointierte Zitate zu, die dem Werk von Helene Lange entnommen waren: Ausschnitte aus Korrespondenzen, Zeitschriftenartikeln und ihren Lebenserinnerungen. Sie öffneten ein Fenster in die alte bürgerliche Frauenbewegung und ihre Themen. Sicher war jedes Zitat von meiner früheren – und späteren – Kollegin Irene Stoehr handverlesen.
Nicht nichts!
Rückblickend, war das Erscheinen der Frauen und Schule vor allem einer produktiven feministischen Unruhe geschuldet, mit der eine Zuversicht einherging, Schule und sogar die Koedukation selbst verändern zu können – bis hin zu der Vorstellung, das Spektrum einer sich verändernden koedukativen Praxis um Angebote nur für Mädchen (und nur für Jungen!) zu bereichern, temporär, sukzessive, kooperierend, jedenfalls sich weiter entwickelnd...
Rückblickend, war Frauen und Schule – Zeitschrift für Mädchen- und Frauenbildung ein Projekt, das schon in den 90er Jahren nicht mehr möglich gewesen wäre, ein Phänomen des Übergangs, das von diesem Umstand nichts wusste. Was folgte, war ein verbreitetes Erschrecken über das „Feministische“ des Feminismus, vielleicht so etwas wie eine große, sogar enthusiastische, innerdeutsche Verunsicherung.
Rückblickend – und etwas vermessen mit meinem Vergleich – stand die Zeitschrift noch so gerade eben mit einem Fuß in jenem „Frauenland“ (Helene Lange), durch das der Weg zur Freiheit gehen sollte. Andererseits war der andere Fuß noch in der Luft und kurz davor, in unbekanntem Terrain aufgesetzt zu werden, vielleicht auch aus der Zeit zu fallen.
Sie fiel aber nicht. Sie stellte nur das Erscheinen ein. Was von der „Zeitschrift für Mädchen- und Frauenbildung“ übrig blieb, war der Abo-Stamm, Grundstock für ein publizistisches Gewächs, das daraus frisch austreiben mochte. Ein gutes Jahr später ging aus der alten Frauen und Schule ein neues Periodikum hervor – UNTERSCHIEDE.
Kurze Zuversicht
Irene Stoehr, Kollegin aus COURAGE-Zeiten und seither eine treue Begleiterin, war die Hauptideengeberin der neuen Zeitschrift, ich für die organisatorische Seite verantwortlich, und die Kalkulation. Hier und da bekamen wir Hinweise und Rat. Manche rieten auch ab. „Es gibt zwei Möglichkeiten! Uns ist leider keine von beiden bekannt!“ scherzten wir.
Wir waren ermutigt worden, Fördergelder zu akquirieren. Eine Stiftung war gefunden, eine mögliche Förderung. Die Frist für die Antragstellung war noch nicht abgelaufen, nur etwas Eile geboten. Die Unterlagen mussten nach Hamburg. Um sicher zu gehen, nahm ich den Nachtzug. Übermüdet stieg ich am Bahnhof Berlin-Zoologischer Garten ein. Während ich versuchte, etwas Schlaf zu bekommen, vernahm ich im Dämmerzustand rätselhaften Lärm. Offenbar stiegen unterwegs Leute zu, Männer mit jugendlichen Stimmen. DDR-Renter mit Reiseerlaubnis waren es wohl nicht. Eine „Delegation“? Sportler? Aber so viele? Warum hielt der Zug so lange? Und wo? Hatten wir Schwanheide (DDR) schon passiert? Standen wir westlich der Grenze, in Büchen? Zu müde, um nachzuschauen, war ich wieder eingenickt.
Am Hamburger Hauptbahnhof stieg ich noch müder aus, als ich eingestiegen war. Es regnete, die Geschäfte hatten noch geschlossen. Ich war dazu verurteilt, mich warm zu laufen und die Zeit zu vertrödeln. Ein Zeitungsladen versprach Schutz vor dem Regen. An Pornomagazinen vorbei, auf der Suche nach einer Zeitung, quetschte ich mich durch einen schmalen Gang in Richtung Kasse. Der Verkäufer empfing mich mit fröhlichem Hallo. „Ham se schon gehört?“, woraufhin sich eine zweite Person bemerkbar machte, „Die Mauer is‘ weg!!“ Ich hörte, aber verstand nicht. Kaum war ich draußen, kam es mir in der nassen Novemberluft so vor, als habe ich richtig gehört. Die Knie wurden mir weich.
Die Welt veränderte sich in ihren Grundfesten, und meine Kinder waren allein! Ich rief sie an. Sie machten sich eben für die Schule fertig. Sie hatten die Nachrichten gehört, waren voll informiert und bestätigten.
Was ich im Zug vernommen hatte, war der Lärm des 9. Novembers 1989 gewesen.
Kurz nach dem Mauerfall beschloss die Stiftung, an die der Förderantrag adressiert war, sich neu auszurichten. Sie wollte über ihr Geld nun neu verfügen und es für Bildungsprojekte in der ehemaligen DDR einsetzen. Für uns tat sich in einer sehr prekären Situation – und in einem Moment fast schon unvorsichtiger Zuversicht – eine neue Not auf.
Friedrichroda
Nicht nur die Hamburger Stiftung hatte sich nach Osten ausgerichtet. Auch wir taten das. Eine Tagung sollte der geplanten neuen Zeitschrift vorausgehen. 1990, das Jahr nach dem Mauerfall, war zugleich das Jahr, in dem sich ein wichtiges Datum der alten, bürgerlichen deutschen Frauenbewegung zum 100. Mal jährte. Das konnten wir nicht ignorieren. Die deutsche Währungsunion war bereits besiegelt, auf staatlicher Ebene stand die deutsch-deutsche Vereinigung noch aus, eine Zwischenzeit war angebrochen – umso besser.
Irene war die Initiatorin der Tagung, welche in Thüringen stattfinden und der geplanten Zeitschrift vorausgehen sollte. Genau 100 Jahre zuvor, Pfingsten 1890, war in Friedrichroda der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein (ADLV) gegründet worden, hinsichtlich seiner bildungs- und frauenpolitischen Bedeutung ein Großereignis der damaligen deutschen Frauenbildungsbewegung. Wäre es die Geburtsstunde für die höhere Knabenbildung gewesen, so stünde eine würdige Erinnerung daran wohl außer Frage. Entsprechende Absichten waren nicht auszumachen. Wir beauftragten uns selbst. Immerhin, pünktlich für das Jubiläum war die Grenze zwischen den beiden Deutschlands offen! Friedrichroda lag zwar in der DDR, war nun aber erreichbar (und mein Einreiseverbot obsolet).
In Sachen Mädchenbildung hatte sich in 100 Jahren viel getan, so viel, dass man es ohne Weiteres vergessen konnte. Ohne Geschichte ist Gegenwart nicht zu verstehen. Gilt das aber auch für die Geschichte der Frauenbildung? An der Spitze des ADLV hatte 1890 Helene Lange gestanden, die drei Jahre zuvor ihre berühmte, als „Gelbe Broschüre“ bekannte Schrift vorgelegt hatte. Titel: Die höhere Mädchenbildung und ihre Bestimmung. Diese Schrift begleitete eine Petition, die dann aber vom Preußischen Abgeordnetenhaus nicht behandelt und vom Unterrichtsministerium ein Jahr später abgelehnt worden war. Die Auswirkungen der Gelben Broschüre für die weiteren Entwicklungen der „Frauenbildung als Frauenbewegung“ (so die Überschrift eines Artikels von Irene Stoehr in Frauen und Schule, 1986) waren gleichwohl nicht zu unterschätzen. Die darin vorgestellte Programmatik für bildungs- und frauenpolitischen Fortschritt setzte im Deutschland der ausgehenden Kaiserzeit ein Zeichen für kommende Entwicklungen und hatte Folgen für das Schulwesen bis in die Zeit der Weimarer Republik.
Helene Langes Wirkungsgeschichte hatte spätestens 1890 Fahrt aufgenommen: Ein Jahr zuvor hatte sie in Berlin Mädchen-Realkurse gegründet; vier Jahre später kamen Mädchen-Gymnasialkurse hinzu. Beide, mit Weitsicht gegründete Projekte waren, mit ausgezeichneten Resultaten ihrer – extern geprüften –Schülerinnen gekrönt, Meilensteine für die angestrebte allgemein zugängliche Frauenbildung. Eine Schule in Friedrichroda hatte Pfingsten 1890 für die ADLV-Gründung ihre Pforten geöffnet, ein weiterer strategischer Schritt.
100 Jahre später existierte der historische Ort noch: als Gebäude, als Schule, gar als Helene-Lange-Schule! Auf Anfrage erfuhren wir vom Rat der Stadt Friedrichroda, dass die Schule sich dem Jubiläum nicht versagen wolle. Das Bundesbildungsministerium war leider nicht interessiert. Hätten wir den damaligen Minister, Jürgen Möllemann, einladen müssen? Wäre das, wie gemunkelt wurde, der Schlüssel für die Finanzierung der Tagung gewesen?
Es blieb bei einer Tagung im Initiativen-Format. Das Ministerium lehnte ab. Damit war es in die Fußstapfen seines preußischen Vorgängers getreten. Der hatte damals jene aus der Mitte der bürgerlichen Frauenbewegung kommende Petition für die höhere Mädchenbildung abgelehnt und stand auf der Seite der organisierten deutschen Mädchenschullehrer, aus deren Sicht die Anliegen frauenbewegter Lehrerinnen höchst überflüssig waren.
Die offizielle Begründung der Ablehnung einer Finanzierung der Tagung in Friedrichroda im Jahr der deutsch-deutschen Vereinigung: Irene hatte ihren Tagungsbeitrag bescheiden und keck, mit „Anekdotische und analytische Anmerkungen“ überschrieben, ein Understatement, typisch für sie. Der Titel stand so auch im Tagungsprogramm, das dem Förderantrag an das Bundesministerium für Bildung beilag. Das „Anekdotische“ war der Stein des Anstoßes. Ebenso der Jubiläums-, also festliche Charakter der Tagung. Wir sollten den Antrag, Bezug nehmend auf den ursprünglichen Antrag, neu einreichen. Der ursprüngliche war dann aber im Ministerium nicht auffindbar, und der Ablehnung konnte nicht widersprochen werden. Tagung wie Zeitschrift standen unter keinem guten Stern.
Ein guter Stern war dennoch da. Es war meine überaus geschätzte und verehrte – am 25. Februar dieses Jahres (2023) verstorbene – Kollegin und Freundin Irene Stoehr, die bis Ende 1994 Mitherausgeberin der Zeitschrift UNTERSCHIEDE war (und vieles, vieles mehr).
Ost-West-Konzert im Treppenhaus
Die meisten von uns West-Berlinerinnen hatten von Friedrichroda, dem schön gelegenen Ferienort am berühmten Rennsteig (und auch von diesem Wanderweg), nie gehört. Feministinnen wiederum waren für Friedrichroda ein Novum, genau so das vegetarische Büffet, das wir bestellt hatten. Auf Befremden stießen wir auch mit unserer Bitte – es war Juni –, die Heizung abzudrehen. Die war für uns und die Tagung extra aufgedreht worden.
Wir Westlerinnen kamen uns immer wieder – in mancher Hinsicht aber auch erst im Nachhinein – als Elefantinnen im Porzellanladen vor (siehe Irene Stoehrs „Nach Courage“-Artikel, sie hatte in dieser Hinsicht wohl ein feineres Empfinden als ich). Im Treppenhaus der Schule erklangen Lieder, stimmig und ohne zuvor abgestimmt zu sein – wozu auch, es war nun mal ein Jubiläum.
Man stelle sich vor, ein echter Schulchor trat anlässlich des 100. Jahrestages der Gründung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins im Treppenhaus der Schule auf, mit Volksliedern. Auch wir West-Berlinerinnen hatten einen Chor gebildet. Wir sangen von Franz Schubert das Ständchen „Zögernd leise…“ (Deutsch-Verz. 920, Text: Franz Grillparzer) – von Irene vorgeschlagen.
Noch in Berlin hatten wir zur Generalprobe und anlässlich des Geburtstages der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, diese damit überrascht – und etwas erschrocken.
In Friedrichroda hatte die evangelische Gemeinde schnell noch ein Klavier besorgt. So konnte das Ständchen im Treppenhaus der Helene-Lange-Schule erklingen, dirigiert von Barbara Gabler am Klavier, die es auch mit uns einstudiert hatte.
„Zögernd leise
In des Dunkels nächt’ger Stille
Sind wir hier;
Und den Finger sanft gekrümmt,
Leise, leise
Pochen wir
An des Liebchens Kammertür.
Doch nun steigend,
Hebend, schwellend,
Mit vereinter Stimme, laut
Rufen aus wir hoch vertraut;
Schlaf du nicht,
Wenn der Neigung Stimme spricht!
...“
Das Konzert in der der Helene-Lange-Schule von Friedrichroda war aufgenommen worden. Unglücklicherweise kam unsere Kassette beim Versuch, sie zu überspielen, irreparabel zu Schaden. Es existiert wohl kein anderes Exemplar (ich erwähne dies als Suchanzeige!).
Sogar eine kleine Ausstellung mit Bezug zur Mädchen- und Frauenbildungsgeschichte war in der Aula der Schule aufgebaut worden. Sieben Monate nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren Frauen aus Ost (meist aus Friedrichroda) und West (meist aus West-Berlin) zusammengekommen, um – befremdet und überrascht voneinander – ein Jubiläum der Frauenbildungs- und Frauenbewegung am historischen Ort zu begehen.
Ob das Ereignis am Ort selbst einen Nachklang hatte? Alle Beteiligten hatten erst einmal furchtbar viel zu tun. Die Veränderungen.
Immer noch „Mädchenbildung“?
Eine Finanzierung fand sich nach der Tagung so wenig wie vor ihr. Das für die Finanzierung der Tagung vorgeschossene Geld konnte seiner Geberin nicht erstattet werden. Sie hatte schon bessere Erfahrungen mit hohen Verwaltungsebenen gemacht und war zuversichtlich gewesen, das Bildungsministerium würde, wenn auch ein bisschen zögerlich, die Bedeutung, einmalige historische Gelegenheit und allemal die Berechtigung der Veranstaltung am Ende doch noch erkennen. Sie hatte sich geirrt.
„Mädchen- und Frauenbildung“, meinte jemand, sei schon rein begrifflich ein alter Hut, und kein Grund zu Optimismus. Frauenbewegte Forderungen von einst hätten sich längst zu feministischen Selbstverständlichkeiten gemausert. Solche Selbstverständlichkeiten zu feiern und hervorheben zu wollen, würde den Fortschritt eher verkennen…
Ein hölzernes Frühstücksbrettchen mit dem eingebrannten Portrait von Helene Lange, das die Helene-Lange-Schule von Friedrichroda aus einem früheren Anlass (Namensgebung der Schule?) in kleiner Auflage hatte herstellen lassen, überstand die Jahre seither. Den Initiatorinnen der Tagung 1990 zur Erinnerung an das Jubiläum überreicht, zierte es bis vor Kurzem an prominenter, durchaus symbolträchtiger Stelle – über der Spüle – die Küche von Irene Stoehr.
Während Schul- und Bildungswesen neuen Herausforderungen entgegen gehen, stellen sich alte Fragen neu. Wie und in welcher Form kann „Mädchenbildung“ – als Ansatz zu einer genderbewussten und eben darum allgemeineren und gültigeren Bildung – in eine kritische Praxis der Koedukation eingehen? Ist das möglich, nachdem eben diese „Mädchenbildung“ im flächendeckenden Erfolg der Koedukation tatsächlich untergegangen ist?
Kleines Nachspiel mit Papiergalgen
Ein weiteres Erinnerungsstück an die Tagung in Friedrichroda ist ein kleines Glanzstück der Bastelkunst: ein Galgen. Ein Pop-up-Galgen! Ein Kind hat ihn kunstfertig gebastelt, nachdem ich im Anschluss an ein Telefonat mit einem Ministeriellen rein privat und, wie ich annahm, unhörbar, eine wüste Beschimpfung gegen diesen los gelassen hatte. Mein Kind verstand es als Auftrag.
In das obere von zwei miteinander verbundenen Blatt Papier ist ein zarter Galgen eingeschnitten. Dieser tritt, wenn man das Deckblatt des an die Wand gepinnten Werks nach unten aufklappt, plastisch aus dem roten – inzwischen zartrosa verblassten – A4-Bogen hervor. Bald schon hatte ich den Namen des Schuldigen vergessen. So soll es sein. Nun verdanke ich dem Versagen des Ministeriums also einen handfesten Galgenhumor.
Mild gestimmt, äußerte ich später, wieder einmal etwas unvorsichtig, ich könne doch nicht jedes Mal die Bösen gleich an den Galgen bringen. Für künftigen Ärger bekam ich daraufhin ein Papp-Gefängnis mit echten (Papp-)Gittern sowie einem Dummy zum Einsitzen. Dazu ein Heftchen mit leeren Seiten, um Delinquenten, Strafen und Dauer der Strafen zu verzeichnen.
Im neuen Jahrtausend musste bislang nur einmal jemand einsitzen (halbes Jahr, ähnliches Delikt!).
Die neue Zeitschrift - UNTERSCHIEDE
Kein Selbstverlag mehr (wie Frauen und Schule)! Wir fanden einen (externen) Verlag, ein kleiner Fortschritt. Die neue Vierteljahresschrift (März 1990 bis Oktober 1994) verlegte der Kleine-Verlang in Bielefeld. Die neue Zeitschrift wollten wir nutzen, um Ungleichheiten, besonders solche zwischen Frauen, zu reflektieren. Zugegeben, die zwischen Männern und Frauen, so wie sie oft abgehandelt wurden, langweilten uns nicht selten.
Das Grundkonzept war maßgeblich von Irene geprägt. Sie war auch die Mutter des bedenklich (!) langen Untertitels der UNTERSCHIEDE, der das Feministische mit Sinn für eine Mischung aus Provokation und Versöhnlichkeit ins Auge fasste und eine Programmatik feministischer Offenheit andeutete, mit der wir, möglichst mit anderen zusammen, an die Themen herangehen wollten: Zeitschrift für Lehrerinnen und Gelehrte, Mütter und Töchter, Gleich- und Weichenstellerinnen, Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art.
Um ein paar Hefte aufzuschlagen…Zunächst stand die Tagung in Friedrichroda und ihr historischer Anlass im Zentrum – mit einem dreiteiligen Fortsetzungsartikel von Irene Stoehr.
Das zweite Heft thematisiert vor allem den Lernort Schule: „Auf die Lebensfragen der Mädchen nicht eingestellt – Berufsvorbereitung in der Schule“ (von Doris Lemmermöhle-Thüsing), „Informationstechnische Grundbildung – die neue Hürde für Mädchen?“ (Maren Heimlich), „Für Hausarbeit ausbilden?“ (Irmhild Kettschau), „Neue Jungen braucht das Land“ (Sabine Knauer)… Zu den weiteren Beiträgen gehört der Brief einer Tochter an ihre, mit „Mein Herzenswiderfink“ und auch mal mit „Widerlingchen“ angeredete Mutter. Der Brief ist von 1946 und endet mit den Worten: „Schicke schnell Geld, verkaufe schnell die Kette! Lebe waul (sic!), sei artig und benimm dich tadellos. Dein liebes Kindel.“
Bärbel Bohley (1945-2010) wunderte sich im Gespräch, zu dem wir sie im Sommer 1991 besuchten, über „Westfrauen“. Solche hatte sie gerade bei einer Podiumsdiskussion erlebt. Die wiederum hatten sich über sie gewundert, „warum ich nicht bereit sei, ‚Verantwortung zu übernehmen‘ – in den Bundestag zu gehen, hieß das für sie. Ich wundere mich doch sehr, dass ‚Verantwortung‘ so einfach mit einem Bundestagsmandat gleichgesetzt wird.“ Gut 30 Jahre später sind Bärbels Positionen als die einer DDR-Oppositionellen – und fast noch mehr „West“-Oppositionellen – umso interessanter zu lesen, aber auch beklemmend. Überschrieben ist der Beitrag mit ihren Worten, „ich bin nicht gesamtdeutsch“.
Vor dem Hintergrund des Gesprächs mit Bärbel Bohley ist der Artikel der tschechischen Soziologin und Unterzeichnerin der Charta 77, Jiřina Šiklová (1935-2021) über „Die Dissidentinnen“ (H.6, Juni 1992) umso erhellender. Ähnlichkeiten sind unübersehbar, ihre präzisen Beobachtungen eröffnen Raum für Nachdenklichkeit.
Beiträge im selben Heft widmeten sich Fragen des Wohnens: „Voraussetzungen frauenfreundlicher Wohnungspolitik“ (Kerstin Dörhöfer), „Hausökonomie, Wohnküchen, Kochnischen – zur Geschichte der Küche“ (Sabine Böttcher), „60 Welten. Bericht aus einer Frauensiedlung“ (Dr. Helene Turnau, 1932), „Zuletzt zusammen. Wohnprojekte älterer und für ältere Frauen“ (Irene Stoehr). Ebenfalls im Heft: „Primatologinnen entdecken das weibliche Tier“ (Marianne Christel), und ein Nachruf auf Lilli Friedemann, Musikpädagogin (1906-1991) von Barbara Gabler. Mit „Langeweile“ überschrieben ist ein „Erzähltes Lustspiel“ von Bertha von Suttner. Der biographische Artikel über die „Friedenskämpferin und Trivialschriftstellerin“ ist von Mia Menzel (d.i. Irene Stoehr).
Heft 13 wartet im April 1994 mit Skepsis auf: „Fördert Frauenförderung Frauen?“ Viele Förderfragen: Frauenförderung: Familienlastig? …in „Männerberufen“? …in Frauenberufen? Kein Geld? Keine Fantasie? A la DDR? A la EG?
llustriert ist der Titel mit dem Foto einer weiß angestrichenen, ein bisschen protzigen, aber schadhaften Hütte mit offen stehender Tür. Auf der Hütte steht groß „White House“.
Von Anfang an leisteten wir uns eine Rubrik, die aus je zwei Teilen bestand: einem kurzen Prosawerk von einer Schriftstellerin des frühen 20. Jahrhunderts und einem biographischen Artikel (zumindest Notiz) über sie, möglichst auch etwas zu Entstehung oder Hintergrund des Prosatextes. Die Schriftstellerin musste nicht unbedingt zu den „vergessenen“ gehören. (Mehr zu UNTERSCHIEDE und dem Schmöker, s. Irene Stoehr zu „Nach COURAGE“).
Kinderlos. Zwei Söhne.
In einem Doppelbeitrag (Heft 14/15) ergriffen wir Herausgeberinnen die Gelegenheit, um Gedanken zur Unterschiedlichkeit von Frauenleben darzulegen. Unter dem gemeinsamen Titel „Wohin rollt die Mutterrolle?“ stehen unsere beiden Teilbeiträge unter einer je eigenen Überschrift: „Irene Stoehr über Wendeknickerinnen und öffentliche Meinungen“ und „Eva-Maria Epple über die Genialität der Frau Maier-Zumtobel“. Darunter steht, zur persönlichen/ politischen Kurzverortung, je ein Satz: „Die Autorin, Jahrgang 1941, ist absichtlich kinderlos (I. Stoehr)“ und „Die Autorin, Jahrgang 1952, lebt mit zwei Söhnen, 14 und 17 (E.-M. Epple)“.
Grafisch war der gemeinsame und zugleich getrennte Artikel auf Kante genäht: zwei aufeinander bzw. aneinander stoßende, um eine halbe Zeile verrutschte Textsäulen. Wir schrieben als Frauen, deren Existenzen sich am Kinder-Haben und Kinder-Nichthaben schieden und sich gerade deshalb unweigerlich zueinander verhielten, als Individuen, deren Lebensumstände und Sichtweisen keineswegs als typisch für die eine und andere Existenz zu verallgemeinern waren, aber doch vor dem Hintergrund zweier Grundentscheidungen gesehen werden sollten, um sie zu verstehen. Das war nicht nur ein persönlicher Anspruch auf Sichtbarkeit, sondern ein Anspruch auch auf politische Neugier und gesellschaftliche Präsenz – jenseits der oft etwas eilig und leichtfertig formulierten „Mutterrolle“.
„Endproduktion!“
Wir beendeten unsere Arbeit an UNTERSCHIEDE 1994 so schulden- wie verdienstfrei und sahen es mit einem gewissen Stolz, dass wir uns trotz regelmäßig großem Stress – vor allem in der unweigerlich mit dem Abschluss eines Heftes jedes Mal auf uns zu kommenden, sogenannten Endproduktion – nicht überworfen hatten. Ganz nebenbei gab es für uns neben den vielfältigen Arbeiten als Herausgeberinnen, Redakteurinnen und Autorinnen, die uns jedes Vierteljahresheft aufs Neue abverlangte, ja auch noch unser anderes Leben, in welchem Einkommen generiert und unsere anderweitigen persönlichen Verhältnisse irgendwie zusammengehalten werden mussten.
Den Begriff der Endproduktion kannten natürlich auch meine Kinder – er verhieß für sie nichts Gutes, denn jedes Mal brach dann eine – sicher viel zu lange – Zeit an, in der ich zu Hause sogar bei Anwesenheit oft abwesend war.
Auf dem Schild an der Tür zu meinem Arbeitszimmer stand „Redaktion“, und im Türrahmen hingen Glöckchen, die leise läuteten und „Besuch“ ankündigten. Gar nicht selten passierte es, dass meine Kinder mit unüblichen Aufgaben eines solchen Haushalts konfrontiert waren. Sie fielen wie böse Früchte vom Baum meiner täglichen Engpässe ab. Beide lernten Korrektur lesen, verstanden früh, um was es dabei ging – und waren darin exzellent.
Schimpfkanonade am Telefon
Telefonate mit Autorinnen und ständigen Mitarbeiterinnen, zwischen uns Herausgeberinnen; über Themen, Texte, technische Details; mit unserer Grafikerin, mit Archiven, zu Illustration, Bildbeschaffung, Bildrechten; über Kosten, Datenkonversion und Computernutzung, über Fristen, Termine, Terminschwierigkeiten. Nicht so oft kam es vor, dass Leserinnen anriefen, sie schrieben Briefe (Leserinnenbriefinnen, wie meine Freundin Susanne zu sagen pflegte). Wegen Abonnements wurde der Verlag direkt angerufen.
Doch einmal geschah genau das, eine Leserin rief an. Die Anruferin war aggressiv (was ich lange zu ignorieren versuchte) und anmaßend (eine Weile kam es mir noch interessant vor). Ich war aus blauem Himmel mit einer Feindschaft konfrontiert, die allem feministischen und überhaupt zivilgesellschaftlichen Engagement galt. Ich war nur die Telefonnummer dafür.
„Ich bin Studienrätin.“ – „Ja?“
„Ich denke, ich muss Sie einfach mal anrufen. Es ist nicht so, dass ich den Preis Ihrer Zeitschrift nicht zahlen kann.“ –
„Sie finden ihn zu hoch?“
Die Hefte kosteten 12,50 DM, später 14 DM und hatten einen Umfang von 60 Seiten.
„ So könnte man es nennen. Zu hoch ist eigentlich untertrieben.“ –
„Wie würden Sie es dann nennen?“
„Wenn man einen so hohen Preis verlangt, wie Sie es tun, ist das eine Unverschämtheit.“ –
„Das kann ich nicht finden. Und natürlich sind Sie nicht gezwungen, die Hefte zu abonnieren.“
„Das weiß ich auch.“ –
„Haben Sie bemerkt, dass es sich um eine Zeitschrift handelt, die Ihnen praktisch auf allen Seiten Inhalt bietet? Vermissen Sie etwa Werbung?“
Ich bemühte mich, der Anruferin wirtschaftliche Hintergründe der Preisbildung einer kleinen Zeitschrift zu erklären, die in Umfang, Gestaltung – und eben auch preislich – eher mit einem Buch vergleichbar war. Ich erwähnte besondere Voraussetzungen eines Nischenprodukts, die Ambition, änderungswürdige Dinge zu verändern, die unbezahlte Arbeit, ehrenamtliches und kreatives Engagement, das Spektrum, die Ausdifferenzierung von Themen, die Bereicherung von Diskussion, den durch eine solche Zeitschrift kreierten wertvollen Raum für Autorinnen, die etwas zu sagen haben, für Veröffentlichungen, die sonst nicht erscheinen würden, für Inhalte, die anderswo nicht zu finden sind…
„Unfug!“ –
Je mehr ich erklärte, desto weniger mochte sie folgen. Stattdessen wuchs ihre Empörung noch weiter.
“Wenn sich das so verhält, wie Sie sagen“, erklärte sie schließlich, „sollten Sie eine solche Zeitschrift gar nicht erst herausgeben dürfen!“ Ungefähr hier beendeten wir das Telefonat, ich saß noch eine ganze Weile und lauschte den Auffassungen der Studienrätin nach. Sie hatte die bloße Existenz „einer solchen Zeitschrift“ als Frechheit empfunden.
Das letzte Heft
Oktober 1994. Mit dem Doppelheft der Nummer 14/15 stellten wir das Erscheinen der Zeitschrift ein. Es erschien mit 120 Seiten für 25 DM. Sein Hauptthema: „Mütterliche Lebensformen – Herdflüchtige, Familienfeministinnen, Mütterlesben, Spätentschiedene, Mit- und Drittmütter“.
Ein Bericht auf der Grundlage eines Interviews mit der Sozialwissenschaftlerin Atina Grossmann thematisierte die Verquickung von Frauenarbeit (der berufstätigen Mutter nämlich) und Frauenarbeit (der Kinderfrau nämlich, die die Berufstätigkeit der Mutter erleichtert, erst möglich, oder doch besser möglich macht). Er war überschrieben: „Aus dem Haus – in das Haus. Mutter und Kinderfrau in New York“. Das Interview mit Atina führten Irene und ich, auf Deutsch und Englisch. Atinas Kinder waren ebenfalls anwesend – und mischten sich ein, besonders der ältere, Max, der wie ein Schießhund auf der Lauer lag, um notfalls korrigierend einzugreifen. Zum Auftakt stellten wir dem Bericht ein paar Sätze von Mutter und Kindern voran:
Mutter: These two ladies want me to tell them about our babysitter – what would you say about Marie?
Max, 8 Jahre: Wonderful!
Mutter: And what is it that makes Marie so wonderful?
Max: Being with me for so long!
Nelly, 5 Jahre: And being with me for so long!
Max: And being paid!
Nelly: And her baby is wonderful, too!
An den Artikel erinnerten wir uns immer mit besonderer Begeisterung. Vieles funkelte darin, deutete an, war mehr. Insofern repräsentierte er bestens jene „Zeitschrift für Mütter und Töchter, Lehrerinnen und Gelehrte, Gleich- und Weichenstellerinnen, Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art“, die nun schon seit 30 Jahren ehemalige „UNTERSCHIEDE“.
Hilfskraft in einer Bibliothek
Die ABM-Stelle im Krankenhaus Spandau war nicht die letzte. 1997 stellte ich im Verlauf einer Bewerbung überrascht fest, dass sowohl mein Konkurrent als auch ich – nachdem wir uns im Warteraum gegenseitig viel Erfolg gewünscht – mit unseren Rädern zwar verschiedene Wege eingeschlagen hatten, doch an dem weit abgelegenen Ziel in einem fernen Stadtteil fast gleichzeitig eintrafen. Wir hatten also beide die Stelle bekommen und mussten nur noch die Verträge unterschreiben, die wir, erleichtert über den Ausgang, unbekümmert einander zeigten. Das brachte uns ordnungsgemäß gleich eine Mahnung ein.
Anderntags wurden wir beim Antritt der Stelle(n) – überraschend nicht mehr als 3 km von unseren Wohnorten entfernt – geradezu überfreundlich empfangen und für den langen (aus unserer Sicht kurzen) täglichen Arbeitsweg bedauert. Wir erkannten darin eine Art Sorry für den schmalen Lohn und nahmen das Bedauern an.
Der neue Arbeitsort war eine Bibliothek, die ABM-Stelle war mit Lernphasen am Computer verbunden. Ich erlebte eine Institution im Umbruch, an einer der vielen Nahtstellen der Ost-West-Stadt, wo die Aufgabe der Vereinigung umgesetzt werden sollte. Zwei Bibliotheken von diesseits und jenseits der ehemaligen Grenze fusionierten.
Geld fehlte, das wurde schnell klar. Ausgerechnet Buchstützen waren knapp – so knapp, dass ich erwog, welche von zu Hause mitzubringen, doch davon absah, als die Dimension des Problems klar wurde. Ein Lastenaufzug, der den Beschäftigten Wege zwischen den Stockwerken und schwere Bücherlasten erspart hätte, fehlte auch – ich stellte mir vor, wie leicht ein solcher provisorisch zu installieren wäre, aber das war „nicht möglich“.
Eine Angestellte, mit der ich einmal ins Gespräch kam, erinnerte sich gern ihrer Lehrzeit und erzählte von der passionierten Bibliothekarin, bei der sie gelernt hatte. Sie war selbst eine passionierte Vertreterin ihres Berufs geworden und schreckte auch vor den kleinen Pflichten nicht zurück. Wenn Bücher wieder einmal schräg im Regal standen, zögerte sie nicht, diese mit schneller Handbewegung gerade zu rücken, damit sie nicht aus dem Leim gingen.
Mit ihrer Art machte sie sich keine Freunde. Auch nicht damit, dass sie erklärtermaßen Spätdienste bevorzugte. Spätdienst Bevorzugende schienen die natürliche Feindschaft von Frühdienst-Fans auf sich zu ziehen. Morgens kämen „manche“ nicht aus dem Bett, hörte ich sagen. Nicht alle waren diesem Kulturkampf verpflichtet, er lag aber in der Luft. Wenn die Späte dann auch noch einen schwarzen Strickrock trug, der unten ein paar bunte Streifen hatte, hieß es „sie will auffallen“.
Eine ABM-Kollegin erzählte mir im Herbst jenes Jahres, dass sie „früher“ gern mit ihrem Mann in die Pilze gegangen sei. Nun aber täten sie dies schon seit Jahren nicht mehr. Seit wann? Seit der Wende. Warum? Sie hatten Angst. Aber wovor? Sie könnten mit Messern angegriffen werden, sie hatte „viele Geschichten gehört“. Nach und nach brachten die meisten ähnliche Ängste zur Sprache und dass sie ebenfalls Geschichten gehört hatten. Keine meiner Kolleginnen aus dem ehemals Ost-Berliner Bezirk Mitte hatte das für manche kaum 500 Meter entfernte Kreuzberg je besucht. Keine hatte es vor. Wegen der Messer…
Einladen half nicht. Unser unmittelbarer Vorgesetzter kannte das Problem, er kam aus der DDR, wohnte im Westen und bemühte sich, erklärend und immer wieder Erfahrungen erfragend und selbst einbringend, zwischen den Seiten, zu „übersetzen“.
Nickerchen und Spatzen
Im Grunde hatte ich es dennoch unverschämt gut. Die mir zugeteilten Aufgaben waren interessanter, als gedacht. Nach einer Weile durfte ich einen Raum mit einer Bibliothekarin teilen – und für ein knappes Jahr etwas über die Entwicklungen ihrer Kinder erfahren, was ein großes Vergnügen war. Mittags schlossen wir uns oft, statt essen zu gehen, ein und gaben uns, auf dem Boden liegend, einem Nickerchen hin. Oder dem Falten von Fröbelsternchen (sie) der Reparatur von Kleidung (ich).
In den Pausen und auf dem Weg zur U-Bahn tauschten wir uns aus. Als DDR-Grundschulkind hatte meine Kollegin vierzig Jahre früher ihre Mutter in Verlegenheit gebracht. Die Klasse hatte raten sollen, welch berühmter Politiker an dem Tag Geburtstag hatte, kein Kind wusste es. Die Lehrerin gab einen Tipp:„ein ganz lieber Mann!“ Da konnte es ja nur einer sein: Willy Brandt! Die Kleine meldete sich. Brandt war kurz zuvor zum Regierenden Bürgermeister von West-Berlin gewählt worden und sehr präsent – im West-Fernsehen. Der Gesuchte war aber Wilhelm Pieck, SED-Parteivorsitzender und erster Präsident der DDR. Die Lehrerin kam nach Hause – es war offenbar West-Fernsehen geguckt worden. Die Mutter erklärte der Tochter danach, worüber „draußen“ nicht gesprochen werden durfte.
Die Grenze zwischen Ost und West kam uns bei all unserem Erzählen nie in den Weg. Eine Gegenerfahrung zu dem, was ich anfangs in der ABM-Gruppe erlebt hatte. Nach und nach lernte ich meinen neuen Arbeitsort kennen.
Aber warum musste die Teeküche in einer bestimmten Zeit, welche auf einem Zettel an der Tür angegeben war, „unbedingt!!“, wie dort stand, geschlossen bleiben? Meine Kolleg:innen hatten sich zugunsten der Spatzen verschworen. Diese flogen, wie gerufen, herbei, sobald zur angegebenen Stunde das Fenster weit geöffnet wurde. Den Hungrigen wurde aber auch einiges geboten. So hüpften sie dann, vom Flur aus gut zu hören, unter Tschilpen wohl zwischen Körnchen und Krümeln auf dem Tisch herum. Eine heilige Stunde lang.
Entdeckungen zwischen Büchern
Eine andere musikalische Besonderheit meines Arbeitsorts war – ein tiefer Ton. Er erinnerte an ein Alphorn, störte aber niemand, so wenig, dass er anscheinend nie gehört worden war. Schließlich wurde mir klar, woher der tiefe Ton kam: Luft strömte bei geöffneten Fenstern aus dem oberen Raum durch eine Spalte zwischen Boden und Tür und über eine Rampe für die Bücherkarren nach unten.
Zu den Dingen, die ich zu bearbeiten hatte, gehörten Kataloge. Von Tag zu Tag hoffte ich, dass Jahrbücher des früheren Kaufhauses Israel (am Alexanderplatz) auftauchen mochten. Es war das älteste und einst größte Kaufhaus Berlins gewesen; gegründet 1815, war es 1939 unter den Nazis „arisiert“, 1943 zerbombt und in den 50ern abgerissen worden.
Von seiner Existenz hatte ich durch eine Textilverkäuferin (und spätere Handarbeitslehrerin) erfahren, die „vor dem Krieg“ dort gearbeitet hatte. Die Situation ist mir unvergessen, da sie mich, nach dem Interview (für eine Veröffentlichung über Lehrerinnen), noch „auf ein Butterbrot“ eingeladen hatte. „Ein Weinchen?“ Wir stießen an, schmeckten ein bisschen nach. „Etwas stark, finden Sie nicht?“ Es stimmte, die Flüssigkeit war etwas träge, die Farbe sehr gelb – es war Birnenschnaps! Galant bestand sie darauf, mich zum Bus zu begleiten, wegen der Rutschgefahr – es hatte geschneit. Ich lehnte dankend ab, sie widersprach, „so alt bin ich noch nicht“. Wieder zu Hause, ging mein Telefon. Ob ich gut angekommen sei?
Eines Morgens in der Bibliothek, ich hatte gleich einen Verdacht: Auf meinem Arbeitstisch ein Turm großformatiger, Leinen gebundener Bücher. Die Album-Jahrbücher des Kaufhauses Israel! Unter meinen Kolleginnen, die in der Umgebung des Alexanderplatzes wohnten, erinnerte sich eine noch an den Abriss des durch eine Bombe beschädigten Hauses. Es sei „gar nicht so schlimm zerstört“ gewesen. Auch habe man noch sehen können, wie schön es einmal gewesen sein musste. – So korrespondierten immerfort das Berlin in den Büchern, das erzählte und diskutierte Berlin und das Berlin um mich herum.
Immer wieder fand ich Interessantes auf meinen Tisch. Etwa einen Stadtplan. Er zeigte die Hauptstadt der DDR und das direkte Umland von Berlin. Mitten im Kartenbild eine weiße rechteckige Aussparung, die West-Berlin darstellen sollte. Ich erinnerte mich, dass ich bei meinem ersten Ausflug nach Ost-Berlin, in den 70er Jahren, von einem Ostdeutschen gefragt worden war, ob ich nicht meinen (West-Berliner) Stadtplan entbehren könne.
Noch ein unvergessenes Fundstück: eine Broschüre, herausgegeben von einer Bank, mit dem Titel „Hauptstadt werden, Hauptstadt sein…“. Ich hörte die sprichwörtliche Mahnung an junge Männer heraus – „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr“. Als drei Jahre später die landeseigene Bankgesellschaft Berlin (BgB) zusammenbrach, mit schweren Folgen für das Land, das dafür aufkommen musste und sich in Milliardenhöhe – sozusagen für die Alimente – verschuldete, fiel mir wieder die Broschüre ein. Die Sache führte zu einem Misstrauensvotum und schließlich zum Ende der Großen Koalition. War jene BgB wohl die Autorin der Broschüre?
Im Arbeitsamt
Eines Tages musste ich zum Arbeitsamt. Unerwartet saß mir nicht die gewohnte Zuständige gegenüber. Ein Satz von ihr hatte sich mir eingeprägt: ich hätte mir doch „einen besseren Vater für (meine) Kinder nehmen können“. Als ich statt der bekannten Bearbeiterin einer anderen begegnete, erschrak ich fast – vor Glück.
Es war ansonsten ein normaler Termin. Beim Abschied drehte ich mich, einer Eingebung folgend, in der Tür noch einmal um und fragte, ob die Zuständigkeit für mich gewechselt habe und ob nun sie statt der anderen da sei, vielleicht an einem bestimmten Tag in der Woche, und an welchem? „Ich bin nur mal eingesprungen“, sagte die Freundliche.
Irgendwann wechselte die Zuständige aber tatsächlich. Die neue Sachbearbeiterin bemerkte in meinen Unterlagen eine Unstimmigkeit und drehte ihren Computer-Bildschirm langsam zu mir, damit ich lesen konnte. Ich schaute sie fragend an; sie zeigte auf eine Stelle und ermutigte mich, zu lesen. Da stand als Schulabschluss: Hauptschule – die Angabe war nicht von mir, ich hatte Abitur und hatte ein Studium begonnen, wenn auch nicht abgeschlossen. Der Fehler, wenn es einer war, erklärte rückwirkend vielleicht einiges.
„Da nehmen wir niemand was weg!“
Ich verfüge über manche Kenntnisse betreffend Wildgemüse, -obst und -kräuter. Vor allem meine Tante hatte mich in dieser Hinsicht beeinflusst, wenn sie und ihre Freundin „Estherle“ mich auf Spaziergänge mitnahmen und, in blühenden Wiesen stehend, die Identität einer Pflanze diskutierten und mich dabei vergessen konnten...
Eine Freude ist es für mich noch immer, wenn es am Weg üppig grünt und ich wie nebenbei auch etwas zu benennen und mitunter sogar Essbares finde.
Junge Lindenblätter gehören im Frühsommer ab und zu aufs Butterbrot, mit einer Vinaigrette geben sie einen Salat. Lindenblüten, Beifuß, Wegmalven, Schafgarben und vieles mehr für Tee. Hopfensprossen als grüner Spargel (die Stängel sind dünn, man braucht viele); Melde ist schmackhafter als Spinat und besser aufzubewahren... Die für ihre schönen Blüten berühmten, doch für ihre Früchte so gut wie unbekannten Zierquitten – sauer, aber als Beimengung in Quittenmus oder -marmelade sehr zu empfehlen. Man muss halt nur ab und zu spazieren gehen. Eine Weile durfte ich im, wir mir schien, schönsten und kleinsten Kleingarten Berlins, nah des Zusammenflusses von Spree und Dahme, Unkraut jäten, Giersch! – und das Ergebnis nach Hause nehmen.
Doch hätte ich je gedacht, dass mich die Sprechstundenhilfe meiner Zahnärztin anruft, um mitzuteilen, ich könne gleich was abholen, ich ahnte ja vielleicht, was. Wir hatten über Garten gesprochen, und unausweichlich über Giersch. Nun hatte sie vor der Arbeit für mich eine ordentliche Menge Giersch geerntet. Und Brennnesseln!
Wenn es um Giersch ging, predigte ich immer gern „Nicht ärgern! Essen!!“ Eines Tages schlug ich eine schwäbische Lokalzeitung auf, die Schorndorfer Nachrichten und entdeckte meine Worte, die natürlich die Worte aller Giersch-Liebhaberinnen sind, über einem Artikel, in dem es um Wildgemüse ging.
Eine Überraschung erlebte ich auch, als ich auf dem Kühlschrank der Kollegin eines Freundes Marmeladengläser erspähte – mit der Aufschrift: Zierquitten. Niemand (außer mir!) kannte sie als Obst, noch dazu einer Marmelade würdig. „Da nehmen wir niemand was weg“, hatte einst die Mutter zu ihr und ihrem kleinen Bruder gesagt, als sie „in der armen Zeit“ die Kinder zum gemeinsamen Freveln in die Vorgärten der Gegend aussandte.
Geschichten von Pflanzen, Genuss und Nahrungszubereitung scheinen alles andere begleitet zu haben. Mitten in meiner beruflich und erwerblich oft schwierigen Existenz fand ich, auch darin, immer wieder Oasen von Ruhe und Schönheit.
Melde mit Genuss und etwas Öl
Einmal bat mich Irene Stoehr – wir kochten und speisten öfter zusammen – um einen speziellen Gefallen. Ich sollte für uns Melde kochen – das gern an Ackerrändern wachsende, aber auch mitten in der Stadt geradezu allgegenwärtige „Unkraut“ und Wildgemüse aus der Familie der Fuchsschwanzgewächse.
Melde essen, das war in der Zeit, nachdem sie – mit Großmutter, Mutter und Schwester aus Schlesien geflohen – in Berlin gestrandet war. Sie hatte der Großmutter geholfen, an Straßenrändern „Spinat“ zu sammeln – Melde, die wilde Vorgängerin des späteren Spinats. Das Kind Irene hatte geliebt, was auch immer seine geliebte Großmutter kochte.
So saßen wir als alte Gemüse-Genießerinnen eines Abends, vor noch gar nicht langer Zeit (Anfang 2021?), in ihrer Wohnung zusammen und verspeisten zu ungeschälten Pellkartoffeln das nur leicht gesalzene wilde grüne Blattgemüse samt leckeren Stängeln (köstlich, solang sie noch nicht verholzt sind) mit Genuss und etwas Öl. Schmausend und erzählend – und völlig vergessend, dass wir uns vielleicht an dem Wein hätten stören sollen. Den hatten wir uns – etwas unpassend zur Erinnerung an Hunger und Not in der Zeit nach dem Krieg – zu unserem Melde-Gemüse genehmigt…
Bei den Vorhaltungen gegen Veganer und Vegetarier, Fleischverzehr verbieten und dem Volk seine Freude nicht gönnen zu wollen, haben wir uns in unseren Diskussionen nie aufgehalten, schon gar nicht beim Essen. Vermutlich hätten wir statt des gescheiterten Kantinen-„Veggieday“ einen „Fleischtag“ der Diskussion wert gefunden!
Vom Bio-Unterricht zum vegetarischen Experiment
Anfang der 2000er Jahre war es bereits eine Weile her, dass das Stichwort „Nachhaltigkeit“ Eingang in die politische Diskussion gefunden hatte. Allerdings beharrten noch immer ganze Redaktionen von Zeitungen darauf, dass der Begriff für die Leserschaft eine Zumutung sei und die Sache selbst zu kompliziert, um sie zu verstehen (bzw. zu erklären). Schulen müssen weiter gewesen sein. Ich erinnere mich, wie mir meine Nichte als Gymnasiastin erklärte, wie wichtig es sei, eine nachhaltige Entwicklung als lokale ebenso wie als eine globale Aufgabe zu begreifen; ihr Lehrer hatte den Begriff der “Glokalisierung“ eingeführt.
Sie fragte, wie ökologische Themen zu mir gekommen seien.
Eine Generation zuvor war ich, selbst noch Schülerin, auf den Bericht des Club of Rome über „Grenzen des Wachstums“ aufmerksam geworden. Ich hatte als freiwillige Aufgabe ein Referat über „Müllprobleme“ übernommen. In 10 Jahren, hieß es Anfang der 70er Jahre, sei auf deutschen Müllkippen kein Platz mehr für unseren Müll – nationale Lösungen waren also ungeeignet, wenn zuvor die Produktion von Müll nicht begrenzt war. Als Austauschschülerin in den USA hatte ich eine Lehrerin gehabt, die als Studentin in einer Naturschutzstation Alligatoren aufgezogen und ausgewildert hatte (schon deshalb bewunderten wir sie); Mrs. DeManche war nie müde, ökologische Zusammenhänge zu erklären und ließ uns im Wahlfach „Biologie für Fortgeschrittene“ Raum für eigene Projekte – ein Feuchtgebiet von Müll befreien (und dies dokumentieren), Wasserproben entnehmen und analysieren…
Oder experimentieren. Ich ging damals dem Fleischkonsum verloren. Dabei hatte ich meine vegetarische Ernährung erst nur als Experiment betrachtet. Ich war neugierig, ob bzw. wann ich dem Heißhunger auf ein gutes Stück Fleisch verfallen würde (ich mochte Fleisch). Meine Umgebung, die teils ein bisschen besorgt um mich war, rechnete fest damit. Das machte mich nur neugieriger auf den Ausgang des Experiments. Der Heißhunger kam aber nicht…
Ich bewunderte Rachel Carson, eine Meeresbiologin und Ökologin der frühen Stunde und als großartige Autorin. Viele griffen die Überbringerin kritischer Nachrichten an, um die Kritik selbst abzuwehren. Präsident Kennedy lud sie 1963 ein, vor seinem wissenschaftlichen Beratungskomitee zu sprechen, ein Durchbruch für ihre Arbeit. Weltberühmt ist ihr Buch „Silent Spring“ (1962), das weit über ihren Tod (1964) hinaus wirkte. Das Verbot von DDT geht auf sie zurück, auch die Gründung der amerikanischen Umweltbehörde (EPA). Die Ausrufung des Earth Day (22. April) zum Frühjahrbeginn 1970 war inspiriert von „Silent Spring“ und markierte den Auftakt der US-amerikanischen und weltweiten Umweltbewegung.
Carsons persönliches – gewissermaßen lokales – Leben war genauso wie ihr öffentliches Auftreten als Buchautorin und im Rundfunk, durchzogen von der Idee des Handelns in unmittelbar praktischer, fachübergreifender wie globaler Verantwortung.
Die Agenda 21 von Rio
1992, eine Generation später, wurde auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro ein globales Programm für das 21. Jahrhundert verabschiedet, die Agenda 21. Das war Anfang der 2000er Jahre, als ich plötzlich aktuell damit konfrontiert war, schon 10 Jahre her. Ein wesentlicher, weil handlungsleitender, Abschnitt des Kapitels 28 des globalen Programms von Rio lautet: „Da viele der in der Agenda 21 angesprochenen Probleme und Lösungen auf Aktivitäten auf örtlicher Ebene zurückzuführen sind, ist die Beteiligung und Mitwirkung der Kommunen ein entscheidender Faktor bei der Verwirklichung der in der Agenda enthaltenen Ziele.“ Bis 1996 sollte die Mehrzahl der Kommunalverwaltungen der einzelnen Länder einen Konsens für eine ‚lokale Agenda 21’ herstellen. Die Kommunen sollten zivilgesellschaftliche wie privatwirtschaftliche Akteure einbeziehen, die zusammen mit Verwaltungen für eine Umsetzung sorgen sollten.
Dieses globale Handlungsprogramm für Kommunen war der Hintergrund, warum in Berlin bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ein Agendabüro eingerichtet worden war, eine Anlaufstelle – auch für mich. Im Rahmen einer geförderten Fortbildung machte ich hier ein Praktikum und hatte Gelegenheit, praktische Vorhaben zu ersinnen, die für eine nachhaltige Stadtentwicklung eine gute Idee sein könnten und für deren Umsetzung im Sinne der Agenda 21 Stadt und Zivilgesellschaftlich zusammenwirken müssten.
Vielleicht – bei kooperierenden Fahrradwerkstätten, Hausbesitzern und Bezirken – sichere Fahrradgaragen mit angeschlossenem Reparaturdienst? Oder – wenn Bezirke und Gewerke zusammenwirkten – Reparaturkaufhäuser? Oder ein stadtweites Netz grüner Wege?
„Willste schnell oder schön?“
Die Idee einer Stadt der grünen Wege hatte mich vor Jahren beschäftigt, als meine Kinder noch Kinder waren und ich mit ihnen unsere Umgebung – West-Berlin – erkundete. Da beide früh selbständig unterwegs waren (und es sein mussten), fragte ich manchmal Spaßes, aber auch Ernstes halber, ob sie mir sagen könnten, wie ich am besten an mein Ziel käme.
Sie fragten dann zurück „Willste schnell oder schön?“ Am liebsten beides! – und so erhielt ich die denkbar besten Ratschläge von meinen ortskundigen Kindern. Sie schlugen mir Wege abseits der großen Straßen vor, und waren sehr gut darin, sie mir präzise zu beschreiben. Verbindungen im Grünen waren die schönsten, oft sogar die schnellsten.
Wir wollten auch in unbekannte Gefilde der Stadt vordringen. Fahrradausflüge endeten leider oft mit einem Platten, meist auf dem Rückweg, wenn es schon dunkel wurde und wir, fast zu Hause, einer Kneipe nahe kamen – und Flaschenscherben. Mir wurde bewusst, was alles Ausflüge erschwerte – fehlende Bänke und Toiletten, fehlende Hinweise zum Bus. Fehlende Durchgänge zwischen Straßen. Fehlende Straßenschilder an Stellen, wo Menschen, die im Grünen unterwegs sind, auf eine unbezeichnete Straße treffen. Auch unzulängliche Karten!
Eine Situation mit meinem 5jährigen. Unterwegs zum Kinderladen, fragte er nach unserem nächsten Ausflug. Ich bestätigte, dass wir nach und nach, wie versprochen, ganz Berlin (West) erkunden würden. Eine Pause trat ein. „Aber ich möchte mal um ganz Berlin herum!“ „Das können wir auch mal machen“, antwortete ich, ein bisschen schnell. „Ich meine außen herum!“ legte mein Sohn nach und sah mich von der Seite herausfordernd an.
Er wusste genau, was für eine grandiose Idee das war! Aktuell durch die Mauer um West-Berlin – und mein DDR-Einreiseverbot – ausgeschlossen. Aber denkbar: Außen herum!
Eine Mittagspause mit Folgen
Noch 4 Jahre, dann war die Mauer gefallen, ein weiteres Jahr, und die Idee des Mauerwegs war geboren. Der Postenweg der DDR-Grenzanlagen um den Westteil Berlins herum sollte zum Wander- und Radweg um Berlin werden, so die Forderung sowohl vom BUND (Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland) als auch des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrradclub) ab 1990. Ab 2001 lud Michael Cramer (Bündnis 90/ Die Grünen) zu seinen berühmten „Mauerstreifzügen“ entlang der 160 km langen, nunmehr ehemaligen, Mauer um die alte Weststadt. Außen herum!
War es 2002 oder 2003? Jedenfalls war es in der Mittagspause einer Mitarbeiterin der Senatsverwaltung, die sie hatte für mich ausfallen lassen. Ich erfuhr, dass Berlin bereits vorhatte, seine grünen Wege auszubauen. Faltblätter und Broschüren unterm Arm, vermutlich auch das alte West-Berliner Landschaftsprogramm von 1984, konnte sie zeigen, dass dieses inzwischen mit den Wanderwegsplanungen für Ost-Berlin zusammengeführt worden waren. Nur war das grüne Wegenetz, auch wenn das Parlament dem Vorhaben bereits 1994 zugestimmt hatte, seither nicht vorangekommen. Die schönen Pläne waren quasi in der Schublade liegengeblieben – zu teuer, keine Priorität.
Die Begegnung ermutigte mich. Wie wäre eine raschere Umsetzung möglich? Wohl nicht in den Grenzen der bisher Beteiligten, von Land und Bezirken. Es brauchte zusätzliches Engagement, Engagement von außen. Das aber konnte nicht von selbst entstehen.
Seltsame Freiheiten
Egal, ob Stadt-, Verkehrs- oder Grünflächenplanung, ich kannte mich weder mit Verwaltungsstrukturen noch mit Planung aus. Andererseits musste ich ja gar nicht planen, sondern nur eine Planung voranbringen. Andere würden mehr wissen und raten können...
„Ich bin so etwas wie der Fahrradpapst!“ stellte sich mir eines Tages dieser selbst vor. Der „Fahrradpapst“ hatte meinen Förderantrag für das eingereichte Konzept eines „Plans für 20 grüne Hauptwege“ gelesen und lobte die für einen Antrag schöne Sprache und die Vielfalt der Themen – beides zeugte mehr von meiner Unbekümmertheit. Mein Antrag war dennoch erfolgreich. Überraschend war aber die Finanzierung, kaum beschlossen, schon halbiert – und ich ein bisschen gewarnt.
Die Finanzierung erlaubte mir, einen Büro-Arbeitsplatz anzumieten, so dass die Freiwilligen, die ich für das geplante Bürgerprojekt und für den „Plan für 20 grüne Hauptwege“ finden wollte, nicht in meine Privatwohnung kommen und dazu noch Treppen überwinden mussten. Abgesehen von körperlichen Einschränkungen, wäre schon die Privatheit einer Wohnung für viele eine Barriere gewesen – und für das Projekt eine Beschränkung seiner Perspektiven.
Ich war froh über die Anschub-Finanzierung. Sie bedeutete freilich nicht, dass auch eine Anschluss-Finanzierung in Aussicht wäre. Sie scheiterte immer wieder, immer anders. Es war schwer durchzuhalten, aber ich fühlte mich in viele Richtungen verpflichtet. Hinzu kam: Ich sah mich unter den Umständen – die nicht gut waren, mir aber gut bekannt – als eine Art von Idealbesetzung. Das war Sarkasmus. Und vermessen. Ich wollte ein Ergebnis.
Der Anfang war merkwürdig. Aus einer Broschüre des Projektträgers FUSS e.V., den ich für das Projekt geworben hatte, erfuhr ich, kaum dass die Finanzierung aus Fördergeldern der Lokalen Agenda 21 zugesagt war, dass es nicht „Ein Plan für 20 grüne Hauptwege“ heißen sollte, sondern „Mensch, ist Berlin schön!“ (die Umbenennung wurde zurückgenommen).
Haben Behörden Gefühle?
Das war aber der Anfang. Im Laufe der Zeit gab es größere Probleme und Empfindlichkeiten! Ich hatte nicht gewusst, dass auch eine Behörde Gefühle hat, dass Verwaltungen neidisch und eifersüchtig sein können. Natürlich haben sie auch nicht immer Lust auf Komplikationen, wie sie ein Bürgerprojekt unweigerlich mit sich bringt. Doch nachdem die planende Verwaltung durch das Bürgerprojekt öffentlich Anerkennung für ihre Planung bekam, Unterstützung und kostenfreien Input, sogar eine Fangemeinde ihres Vorhabens – hätte sie da nicht einfach stolz und glücklich sein können?
Die Verwaltung befürchtete vermutlich gerade wegen des vielfüßigen Engagements von am Ende hundert „Flaneuren“, dass ihr die eigene Planung entgleiten könnte. Denn selbstverständlich sprachen die fleißig Flanierenden immer mal von „unseren Wegen“, und umso länger, desto öfter! Einer von ihnen „verschenkte“ sogar mal den von ihm begangenen, begutachteten und natürlich besonders geliebten – sogar am PC selbst in einer Karte dargestellten – Abschnitt „seines“ Wegs an eine Freundin. Zum Geburtstag!
Die Freiwilligen des Bürgerprojekts – kamen aus allen Teilen Berlins, die meisten aber aus der Innenstadt, bei näherem Hinsehen aus dem Westen. Zivilgesellschaftliches Engagement, das im Westen ein fester Bestandteil demokratischer Praxis war, hatte im Osten der Stadt eine kürzere Tradition. Umso wichtiger waren die in allen Bezirken erscheinenden Bezirks- bzw. Wochenzeitungen, die gratis in Postkästen geworfen wurden – mit viel Werbung, aber auch Lokalnachrichten. Sie waren das wichtigste Medium für die Suche nach Mitwirkenden und veröffentlichten die Anzeige des Projekts unter dem Titel „Flaneure gesucht!“ kostenfrei.
Die meisten „Flaneure“ hatten zu Stadt-, Verkehrs- oder Grünplanung keinen beruflichen Bezug, doch diese Berufe waren durchaus vertreten. Jemand aus einer Bezirksverwaltung wollte sogar „heimlich mit flanieren“; da sie aber unsicher war, ob sie als Verwaltungsfrau und Bürgerin gleichzeitig aktiv werden konnte, ohne in Konflikte zu geraten, zog sie zurück. Ohne in eine Liste zu schauen – es engagierten sich u.a. ein Fotograf in der Ausbildung, ein Student der Architektur, eine Verkäuferin, ein Elektroingenieur, eine Büroangestellte, eine Juristin, ein Pianist, ein früherer Außenhandelskaufmann, eine Floristin, eine Gärtnerin, eine Finanzbeamtin, eine frühere Postbeamtin, eine Ärztin, ein früherer Bundeswehr-Beamter, eine Abgeordnete aus einem Bezirksparlament, ein Philosoph, ein Tischler, eine Lehrerin, eine Kinderkrankenschwester… Und eben auch zwei freie Landschaftsplaner, eine Landschaftsarchitektin, ein (ehemaliger) Verkehrsplaner, ein angehender Stadtplaner…
Die einen bevorzugten Wege in einer ihnen gut bekannten Gegend, andere wollten die Gelegenheit ergreifen, um in unbekannte Gegenden der Stadt zu kommen – „schicken Sie mich sonst wohin!“ Ich schickte freilich nicht, sondern zeigte auf eine große Übersichtskarte mit dem geplanten Wegenetz, das zu begehen war. Je nach Entscheidung für eine Strecke fertigte ich Handskizzen an, eine für mich, eine für den Projektträger, eine für die Flaneurin, den Flaneur. Die meisten waren allein und zu Fuß unterwegs, um ihre Wege zu analysieren, eventuell Lücken im Wegenetz zu identifizieren und für ihre Überbrückung provisorische Verbindungen vorzuschlagen. Berichte sollten außerdem verfasst werden. Flanieren hin, Flanieren her - einige nahmen das Rad. Schnell, wie Radfahrer lieferten sie auch schnelle (kurze) Berichte zu ihren – meist längeren – Strecken. Das war, wie es war.
Neben den Alleinflanierenden, die die Mehrheit bildeten, flanierten andere gemeinsam: zwei Schwestern, eine Tochter mit ihrem betagten Vater, eine Gruppe von Medizinstudentinnen, ein Kleeblatt von vier organisierten Wanderinnen, Paare. Eine Gruppe von 100 Menschen ist groß genug, um lesbisch, hetero und schwul zu sein...
Eine Flaneurin, die nicht in Berlin lebte, sondern nur für kurze Zeit in der Stadt war, beteiligte sich auf der Durchreise, als Touristin, und schrieb den Bericht über ihre Wegstrecke an ihrem Wohnort, von wo aus sie ihn zuverlässig nach Berlin schickte! Manche aber haderten mit dem Projekt, mit der Verwaltung, mit dem „neuen System“, waren nicht mehr zu erreichen oder zogen sich zurück. So vielfältig die Zusammensetzung des Bürgerprojekts in vieler Hinsicht auch war, so war sie doch – bis auf den Aspekt der Barrierefreiheit, der tatsächlich einmal gefragt war – weder Verwaltung noch Verbänden sonderlich interessant.
Was sind überhaupt Flaneure?
„Flanieren“ war nicht definiert – eine von vielen Nachlässigkeiten. Die Bezeichnung bezog sich einfach darauf, dass die Wege in erster Linie für Fußgänger, also für die Langsamen, gut funktionieren sollten. Das Gehen der Fußgänger sollte nicht nur als Fortbewegung verstanden werden, zwischen Bewegung und Innehalten sollten vielerlei mögliche Zwecke imaginiert werden. „Der Weg ist das Ziel!“
Manchmal fragte jemand: „Was sind eigentlich Flaneure?“
Eines Tages brachte einer einen Essay des Berliner Philosophen, Kulturkritikers und Flaneurs Walter Benjamin mit…
Eine Flaneurin stellte Begriffe zusammen, die das „zu Fuß gehen“ präzisierten – laufen lernen, an der Hand gehen, spazieren gehen, Hand in Hand gehen, Treppen gehen, einkaufen gehen, umherstreifen, sich treiben lassen, schreiten, stolzieren, am Stock gehen, schlendern, schlurfen, schleichen, hüpfen, rennen, trippeln, watscheln, stromern, waten, einen Fuß vor den anderen setzen, streunen, trödeln, trampeln, tänzeln, trippeln, sich trollen, spazieren, wandern, auf Wanderschaft gehen bzw. tippeln usw. usw.
Eine von uns kannte am Ende sämtliche grüne Hauptwege aus eigener Begehung, viele der Wege war sie mehrfach abgegangen, meist zu früher Stunde. Ich war mit ihr an einem Juni-Morgen um halb sechs Uhr verabredet. Unser Weg, der Havelhöhenweg, lag im schönsten Morgensonnenlicht. Plötzlich standen uns zwei Frischlinge gegenüber. „Die können doch nicht allein sein…“, überlegten wir. Da kam die Bache aus dem Unterholz und stellte sich vor ihre Jungen. Wir drehten langsam ab und nahmen den nächsten Weg hinunter zum Ufer der Havel. Dieselbe Flaneurin bewies mir einmal mit einer Serie von Sonnenaufgang-Fotos, alle vom selben Punkt aus aufgenommen, dass die Sonne von Tag zu Tag ganz anders aufgeht.
Joggen Flaneure? Flanieren Jogger? Eines Tages erfuhr ich, dass in meiner unmittelbaren Nachbarschaft ein Jogger – und Marathonläufer – den 52 km langen grünen Hauptweg 18 abgelaufen war, den Inneren Parkring. „Zeig doch mal der Frau Epple…“, rief seine Freundin ihn herbei. Er kam an die Tür und führte den gebastelten Köcher mit Schulterriemen vor, in dem er – zusammengerollt – die benötigten A4-Ausdrucke der von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung damals (2005) gerade ins Internet gestellten Karten bei sich getragen hatte, so dass er im Laufe seiner Innenstadtumrundung bei Bedarf jederzeit einen Blick darauf werfen konnte.
550 Kilometer Berlin
Für mich selbst fertigte ich ab und zu Skizzen an, um mir in verschiedener Hinsicht den aktuellen Stand des Projekts vor Augen zu führen. So konnte ich sehen, die von den Flaneuren jeweils ausgewählten Wegstrecken korrespondierten mit der Bevölkerungsdichte der Stadt. Es überraschte mich, als ich es entdeckte und sah, wie das eine dem anderen wie eine Funktion folgte. In den Innenstadtbezirken hatten die Flanierenden kürzere Strecken ausgewählt, Strecken überschnitten sich, sogar mehrfach. Die Wege in der Innenstadt wurden also auch intensiver betrachtet und beschrieben. Sie hatten eine genauere Betrachtung aber auch nötiger als die in wenig besiedelten Außenbezirken, wurden sie doch auch stärker beansprucht, von mehr Menschen und mehr Aktivitäten, aber auch aufgrund von mehr möglichen Konflikten durch unterschiedliches Tempo und durch Nutzungen die nicht zueinander passen.
Zum Stadtrand hin, in den Außenbezirken, wurden die Wege weniger intensiv genutzt, es gab weniger Konflikte zwischen Schnellen und Langsamen, Alt und Jung, Stillen und Lauten. Hier nahmen die Flanierenden, quasi automatisch, längere Strecken auf sich.
Die Fragen hörten nicht auf. „Warum macht die Verwaltung das nicht selbst?“ „Hat die Regierung kein Geld für ihre eigene Planung?“ „Brauchen Fußgänger überhaupt so lange Wege?“ „Welche grünen Wege sind die besten?“ „Warum gibt es keine Mulchwege?“ „Was bedeutet ‚barrierefrei‘? Ist ein Weg vorstellbar, der für alle gleichermaßen barrierefrei, bequem und angenehm ist?“ „Wäre ein durchgängiges Netz grüner Wege für die Stadt ein Gewinn, auch wirtschaftlich?“ „Warum ist das Hotel- und Gaststättengewerbe nicht stärker interessiert?“ „Wie sind ‚Erholungswege‘ definiert?“ „Warum nicht einfach ‚Radwege‘ für alle?“ „Kann Privatgelände enteignet werden, um Ufer allgemein zugänglich zu machen?“ „Wer kennt beispielhaft schöne Wege? Was macht ihren besonderen Reiz aus?“ „Wie sind Naturschutz und mehr Fuß- und Radmobilität vereinbar?“ „(Warum) Können wir als Freiwillige eines Bürgerprojekts die Wege nicht einfach selbst markieren?“ usw.
Ein Überschuss an Ideen
Neben den von vornherein angestrebten Ergebnissen und Hauptzielen des Bürgerprojekts entwickelte sich – typisch für zivilgesellschaftliches Engagement – ein Überschuss an Ideen und (möglichen) Produkten. Nebenher hatten einzelne, manchmal mit anderen, eigene Ideen verfolgt, Konzepte ersonnen, experimentiert und ausprobiert.
Foto-Postkarten wurden in kleiner Auflage gedruckt, damit Zuhause Gebliebene und Spaziergängerinnen in spe gegrüßt werden konnten - „mit freundlichen Füßen!“
Ein Spiel für Kinder und Erwachsene wurde ersonnen: “Wo bin ich?“ fragten Pflanzen, die auf informativen Schildern abgebildet waren nach Ihresgleichen in der nahen Wiese, die von den Spielenden gefunden werden sollten.
Sogar ein – im eingerollten Zustand leicht zu transportierender und bei Bedarf auf einer Straße ausrollbarer und nach Gebrauch wieder einzurollender – Zebrastreifen wurde ersonnen.
Auch wenn es sich um eine Selbstverpflichtung für ein zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten einer Erholungswegeplanung des Landes handelt, so ist ein Spaziergang immer noch ein Spaziergang und also etwas von Grund auf Erfreuliches. Manche werden damit ihre Arbeitswoche beschlossen haben. „Freitag ist Freutag!“ nannte ein Flaneur und künftiger Stadtplaner das. Er führte Spaziergangswettbewerbe durch, für den Beschreibungen real stattgefundener Spaziergänge eingereicht werden konnten.
„Der Mensch denkt, Frau XL lenkt“
Das Zusammenwirken mit der Verwaltung war ein großes Plus. Es ermöglichte, das Engagement der Einzelnen und des Bürgerprojekts als Ganzes auf das gemeinsame Ziel abzustimmen: die Umsetzung der 20 grünen Hauptwege, zunächst durch eine Karte. Das traf auch auf die beiden Verbände zu, die als Projektträger eine Art von Garanten waren, wenn es im Zusammenspiel von Bürgerprojekt und Verwaltung knirschte.
Wir waren – alle! – ein lernendes Projekt. Und das Lernen war alles andere als einfach, musste es doch im laufenden Betrieb geschehen. Auch die Verwaltung musste lernen. Ihr waren Bürgerinitiativen bekannt, die ein Vorhaben ablehnten, ganz oder in Teilen. Auf ein Bürgerprojekt, das zugunsten eines Vorhabens auftrat und dabei allerdings auch Vorschläge einbrachte, war sie nicht vorbereitet. Den Verbänden waren zivilgesellschaftliches Handeln
und Verwaltungshandeln gleichermaßen vertraut. Selbst eine Stimme der Zivilgesellschaft, waren sie wohl ein vielstimmiges Gebilde von einzelnen, das neben und zwischen ihnen und der Verwaltung auftrat und eigenständig agierte, nicht gewohnt. „Frau X, Sie müssen wissen: Ich werde Fehler machen!“ hatte ich am Anfang meiner Koordinierungsarbeit einmal die Zuständige angesprochen und den Versuch unternommen, wegen der für mich absehbaren Probleme zwischen uns in die Offensive zu gehen. „Denn
ich kenne mich mit den Gepflogenheiten der Verwaltung nicht aus, das könnte ein Problem werden.“ „Ach was, Sie werden schon keine Fehler machen!“ antwortete die Angesprochene, ich widersprach. Dabei blieb es. Weder sie noch ich hatten ein Konzept.
Überraschend war eines Tages ein Vortrag über die Bedeutung von Wahlen Teil eines Meetings. Die Botschaft: die Leiterin des Projekts und „ihre Flaneure“ sollten sich nicht einbilden, viel mitreden zu können, als nicht Gewählte. Nicht lange vorher hatte der Entwurf eines Faltblattes für Ärger gesorgt. Darin hatte in etwa gestanden: Wir wollen einer Planung der Stadt – möglichst viele – Beine machen, nachdem das grüne Netz trotz Zustimmung des Parlaments lange nicht realisiert worden war.“ „Beine machen“ – das war zu viel!
Immer wieder schüttete ich in Sachen Zusammenarbeit mit der Verwaltung einem guten Freund mein Herz aus. Mit hierarchischen Verhältnissen gut bekannt, führte an seinem sarkastischen Humor kein Weg vorbei. Seine Formel waren maßgeschneidert:
„Der Mensch denkt, Frau XL lenkt.“
Eine Zauberformel – sie rang mir in der Not ein Schmunzeln ab, wenn
die Situation mal wieder allzu gut zu erkennen war: Der Mensch denkt, Frau XL lenkt. Glücklicher Ausgang.
2006 hatte der BUND Berlin vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus sogenannte Wahlprüfsteine ausgearbeitet, darunter war auch einer, der die Bereitschaft zur Umsetzung der 20 grünen Hauptwege betraf. SPD, CDU, Bündnis 90/ GRÜNE und Linkspartei/ PDS plädierten für eine Umsetzung der Wege. Die FDP verkündete, unbekümmert um die offen zur Schau getragene Dummheit, mit Pennälerstolz: „Berlin ist kein Biotop“.
Am Ende war das zivilgesellschaftliche Engagement erfolgreich, Maßnahmen – bis dahin von mehreren Regierungen versäumt – wurden tatsächlich angestoßen. Legitimität und eine reelle Erfolgschance hatte das Bürgerprojekt aber nur dadurch gehabt, dass Berlin sich eine „Lokale Agenda 21“ gegeben hatte, die ein Zusammenwirken von Verwaltung und Zivilgesellschaft ausdrücklich vorsah. Im PieKart-Verlag erschien im Mai 2008 erstmals ein offizieller Übersichtsplan mit dem vollständigen, die Bezirke übergreifenden grünen Wegenetz und mit Texten zu jedem derWege. Titel des Kartenwerks: „Berlin: Flanieren – Spazieren – Wandern. 20 grüne Hauptwege“ (Maßstab 1:40.000). Wegen des offiziellen Charakters der von der Stadt
herausgegebenen Karte, hatte ich vorgeschlagen, dass diejenigen, die am Zustandekommen der Karte und der künftigen Umsetzung mitgewirkt hatten, in einer Dankesnotiz erwähnt werden sollten. Die Form der Nennung war mit den einzelnen abgesprochen worden, manche waren mit der Nennung ihres Namens einverstanden, andere wollten anders, z.B. mit Vornamen oder Initialen, erwähnt sein, alle aber zusammen mit ihrem Stadtteil. Die Aufzählung der Flaneur:innen begann mit „Angelika und Petra (Köpenick/ Spindlersfeld) – Anne und Hartmut (Steglitz/ Lichterfelde) – Edelgard Achilles (Schöneberg) – Tobias Amberg (Neukölln) – Renate Awada (Neu-Tempelhof) – A.B. (Neukölln) – Bernhard B. (Spandau/ Falkenhagener Feld) – Gerda Bartscher mit einer 5. Klasse (Kleinmachnow) – Matthias Bauer Parkgenossenschaft Gleisdreieck (Schöneberg) – Rosi Berroth (Wedding)…
Das waren die Zwölf, mit denen die Liste begann. Hier die zwölf, mit denen sie endete: … Kirstin Voß (Friedrichshain) – Sieglinde Wagner, per pedes e.V. (Steglitz-Zehlendorf) – Helmut Walter, Bürgerverein Wilhelmshagen-Rahnsdorf e.V. (Köpenick/ Wilhelmshagen) – Wandergruppe ‚Die vier Herbstzeitlosen‘ (Wilmersdorf) – Susanne Werner (Schöneberg) – Karin Wyličil M.A. (Friedrichshain) – HaZett (Steglitz/ Lichterfelde Ost) – Zwei Schwestern
(Kreuzberg).
Die Dankesnotiz in der offiziellen Karte scheiterte am kategorischen „Entweder volle Namen oder gar nicht.“ Ich erwähne es als Beispiel für nicht abreißende „kleine“ Schwierigkeiten. Am Ende beschwerte sich von den Flaneur:innen keiner und keine, zumal es um persönliche Eitelkeit nicht ging. Vielmehr sollte die Nennung von Orten und Personen in je eigener Form reales, individuelles, demokratisches Engagement minimalistisch „erzählen“.
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