Es waren aber auch die Jahre des beginnenden „Schwestern-Streits“ – resp. der großen Debatten, die nichts weniger als eine feministische Öffentlichkeit konstituierten. Es ging z.B. darum, ob die feministische Bewegung autonom bleiben oder in bestehenden Institutionen politisch wirken und sogar „Staatsknete“ annehmen sollte. Es ging um Mütter in der Frauenbewegung, um Lesben und Heteras, um weibliche Spiritualität und darum, ob „Lohn für Hausarbeit“ oder „die Hälfte aller qualifizierten Arbeitsplätze für Frauen“ die „richtigen“ Forderungen waren. Das prominenteste Forum für solche feministischen Auseinandersetzungen waren die Frauen-Sommeruniversitäten an der Freien Universität Berlin, an denen ab 1976 alljährlich mehrere Tausend Frauen aus Westberlin, der BRD und dem westlichen Ausland teilnahmen. Ich hatte keinen dieser Kongresse versäumt, und als COURAGE-Redakteurin durfte ich schließlich im Herbst 1983 über die 7. Sommeruni berichten. Deren Titel „Wollen wir immer noch alles? Frauenbewegung zwischen Traum und Trauma“ brachte zum Ausdruck, dass die feministische Aufbruchsstimmung definitiv vorbei war. Passenderweise blieb die 7. Sommeruni die letzte dieser eindrucksvollen Großveranstaltungen.
Der Streit um Lohn für Hausarbeit (LfH) Mitte der 70er Jahre bedeutete für mich eine Menge, nicht zuletzt das Ende der Unschuld der Frauenbewegung als einer fest gestrickten Einheit gegen das Patriarchat. Aber ich habe nur mit einem Auge darum geweint, andererseits wurde ich streitbar. Jedenfalls habe ich ohne zu zögern Position bezogen und mich für die Lohnforderung (1000 Mark vom Staat für jede Frau!) stark gemacht. Ich gehörte sogar der so genannten. „internationalen Kampagne Lohn für Hausarbeit“ an, die aus – nun ja – bestimmt an die 15 Frauen (!) aus Deutschland, England und Italien bestand. Sie war auf der 1. Sommeruni 1976 nach dem inspirierenden Eröffnungsvortrag von Gisela Bock und Barbara Duden „Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit“ von den Referentinnen gegründet worden. Damals wurde mir klar, dass es dumm war, die weibliche Hausarbeit gering zu schätzen, sondern dass sie vielmehr aufzuwerten und zu bezahlen sei. Dies fanden wir für den „Hausfrauenlohn“ Streitenden natürlich nicht etwa konservativ oder gar „reaktionär“ wie die meisten anderen Feministinnen, die uns u.a. vorwarfen, mit finanziellen Anreizen die „Frauenrolle“ zementieren zu wollen. Vielmehr argumentierten wir einerseits mit der anarchisch-radikalen Gewißheit, dass Frauen eine bezahlte Arbeit eher verweigern würden als eine, die ihnen biologisch zugeschrieben wird und andererseits mit der im marxistischen Sinn revolutionären Sprengkraft der Lohn-Forderung, die letztlich darin bestehen sollte, dass der kapitalistische Staat zusammenbrechen würde, wenn er das wahre Fundament seiner eigenen Existenz – nämlich die unbezahlte Hausarbeit der Frauen – angemessen entlohnen müsste. Obwohl ich schon damals fürchtete, dass eine solche Revolution ausbleiben könnte, oder auch gerade deshalb, erlag ich der bestechenden Ambivalenz dieser Argumentation.
Eine der etwas späteren Debatten bezog sich auf die politische Bewertung der alten Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933. Allerdings war es eigentlich keine Debatte, sondern eine Suche historisch interessierter Feministinnen nach den mutigen „Schwestern von gestern“, mit denen sie sich identifizieren, von denen sie lernen wollten. Als diese Suche eine „bürgerliche Frauenbewegung“ zutage förderte, in der eine „gemäßigte“ Mehrheit einer „radikalen“ Minderheit gegenüber stand, war schnell klar, mit welcher Seite die meisten Pionierinnen der Neuen Frauenbewegung sympathisierten, kamen doch viele von ihnen aus der – um Radikalität nicht verlegenen –Studentenbewegung, die in ihren verschiedenen Gruppen diese geradezu als Identitätsmerkmal kultiviert hatte. Die sozialistische bzw „proletarische“ Frauenbewegung einer Clara Zetkin, die es um 1900 auch noch gab, kam als Vorbild nicht infrage, weil für sie die „Frauenfrage“ erklärtermaßen zweitrangig war wie für ihre männlichen Parteigenossen bis heute – ein „Nebenwiderspruch“ eben.
Das war schlimm genug. Den größeren historischen Schock löste jedoch die Wahrnehmung einer Frauenbewegung aus, die nicht nur „bürgerlich“ war (wie wir auch, was wir damals nicht wahrhaben wollten), sondern die allen Ernstes „Mäßigung“ auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Eine Frauenbewegung, die offensichtlich die Geschlechterrollen nicht grundsätzlich ablehnte, sondern sogar „Mütterlichkeit“ zum Leitbegriff ihrer Frauenpolitik erkor, und deren Aktivitäten sich – angeblich – in wohltätiger Arbeit erschöpften.
Ich selbst fand diesen frauenpolitischen Ansatz übrigens durchaus nicht schockierend, sondern eher interessant. Seit Mitte der 70er hatte ich mich mit der Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich beschäftigt, aber zu meiner Überraschung eine gewisse Langeweile empfunden, wenn die mich nur in feministischen Binsenwahrheiten bestätigte – nach dem Motto: Hedwig Dohm hat vor 100 Jahren schon gewusst, dass die Menschenrechte „kein Geschlecht“ haben. Statt dessen fand ich zunehmend Gefallen an historischen Einsichten und Lösungen, die Frauen unter ganz anderen Bedingungen für die Probleme des Geschlechterverhältnisses ihrer Zeit gefunden haben, und die uns heute eher befremdlich erscheinen.
Noch in meine COURAGE-Zeit fiel die 50jährige Wiederkehr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933. Inzwischen war die „gemäßigte“ Frauenbewegung in der feministischen Öffentlichkeit noch mehr in Verruf geraten und beschuldigt worden, die Naziherrschaft ideologisch vorbereitet und sogar begrüßt zu haben. Als ich aufgefordert wurde, mich dazu im Februarheft 1983 der COURAGE zu positionieren, war mir etwas mulmig zumute. Dass ich mich getraut habe, die durchaus zwiespältige Haltung der Mehrheitsfrauenbewegung zum NS ohne Entlarvungsabsicht verstehen zu wollen, hat wohl auch damit zu tun, dass ich aus dem „Schutzraum“ der COURAGE schreiben durfte, ohne etwa in der Redaktion auf Zustimmung zu meinen Thesen hoffen zu dürfen. Als „Schutz“ habe ich aber die Unterstützung wahrgenommen, die ich und andere dort für die Präsentation von Positionen erhalten haben, gerade wenn sie nicht gängig, sondern ein bisschen schräg oder – nun ja – überpointiert waren, aber halbwegs schlau bzw. nachvollziehbar begründet wurden.
So erschien der Artikel als Aufmacher unter der etwas reißerischen Überschrift „Frauenbewegung 1933: Machtergriffen?“, die eine Menge Frauen am Vormittag des ersten Februarsonntags 1983 in die Redaktionsräume lockte, wohin die COURAGE zu einer öffentlichen Diskussion eingeladen hatte. Dabei war mein Versuch, z.B. die bekennende „Gleichgültigkeit“ einiger damaliger Wortführerinnen (insbes. Gertrud Bäumer) gegenüber der herrschenden Politik mit einem eigenwilligen Politikverständnis dieser Frauen in Zusammenhang zu bringen, auch in der Courage höchst umstritten. Es ging heftig zu, wenngleich in den Grenzen demokratischer Gepflogenheiten, gewissermaßen gemäßigt, so jedenfalls meine nur undeutliche Erinnerung. Wenn dem so war, sollte es sich allerdings bald ändern. Im Januarheft 1984 antwortete ich noch auf eine ausführliche Entgegnung von Hildegard Brenner, die gleichzeitig in Die Schwarze Botin und in EMMA erschienen war. Kurz darauf verließ ich die COURAGE mit Bedauern, weil ich deren beschlossene Umwandlung in eine Wochenzeitung nicht mittragen wollte. Es war wenige Monate vor ihrem Konkurs.
In den folgenden Jahren wurde ich wegen des besagten Artikels noch häufig angegriffen und auch mit Unterstellungen und Diffamierungen konfrontiert, u.a. in EMMA und auf feministischen Tagungen. An eine dieser Veranstaltungen erinnere ich mich immer noch etwas beklommen: Im Frühjahr 1986 wurde ich freundlich eingeladen, auf der Lesbenwoche im Soziologischen Institut der FU Berlin meine Thesen zur Frauenbewegung 1933 vorzustellen. Von Freundlichkeit konnte aber vor Ort nicht mehr die Rede sein; statt dessen wurden mir vorbereitete, größtenteils suggestive Fragen gestellt, die sich vor allem auf Gertrud Bäumer bezogen, die von vielen Feministinnen meistgehasste Protagonistin der Gemäßigten. Ich fühlte mich wie in einem Tribunal mit dem Ziel, Gertrud Bäumer als Faschistin zu entlarven und mich mit ihr zu identifizieren. Das war nicht gerade schmeichelhaft.
Zum Glück hatte ich gut zu tun. Zwar war es in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bereits fast unmöglich, im fortgeschrittenen Alter, noch dazu ohne akademischen Titel, eine feste Stelle in einer wissenschaftlichen Einrichtung zu ergattern, aber es gab die so genannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Das waren bekanntlich öffentlich bezuschusste zeitlich befristete Stellen, und zwar durchaus nicht nur im Niedriglohnsektor, wie man dem aktuellen Wikipedia-Eintrag zufolge glauben könnte, sondern auch solche für AkademikerInnen mit Bezahlung nach dem Bundesangestelltentarif. Diese Einrichtung eines zweiten Arbeitsmarkts als Mittel gegen die damals sehr hohe Erwerbslosigkeit erlaubte es manchmal auch, sich eine solche Stelle selbst zu beschaffen. Mir war es z.B. gelungen, die zögerliche Vorsitzende des Deutschen Staatsbürgerinnenverbands zu überzeugen, für immerhin 1 ½ Jahre (nicht etwa für 2, was möglich gewesen wäre) eine ABM zur Auswertung und Bearbeitung seines Archivbestands mit dem Ziel einer Buchpublikation zu beantragen.
Der Staatsbürgerinnenverband war in den 1980ern ein recht bescheidener Frauenverein, der in einer großen Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg von einigen älteren Damen ohne viel Aufhebens verwaltet wurde, so dass man ihm seine respektable Geschichte nicht anmerkte. Er war bereits 1865 als „Allgemeiner Deutscher Frauenverein“ (ADF) in Leipzig gegründet worden und war die erste Organisation mit dem Anspruch, die vielfältigen Frauenvereine im Deutschen Kaiserreich zu bündeln und – als Frauenbewegung – zu vertreten. Die Tatsache, dass ab 1894 der „Bund deutscher Frauenvereine“ (BDF) die Rolle des Dachverbandes der Frauenbewegung übernahm, reduzierte das Ansehen des ADF nur unwesentlich: Er wurde nun das „allgemeine“ Vertretungsorgan des „gemäßigten“ Mehrheitsflügels.
Bezeichnenderweise wurde ein und dieselbe Person, die Leipziger Schulvorsteherin Auguste Schmidt, 1894 und 1895 zur Vorsitzenden beider Organisationen gewählt: des BDF und des ADF, letzteres als Nachfolgerin der im selben Jahr verstorbenen Louise Otto-Peters, mit der zusammen sie den Verein 30 Jahre zuvor in Leipzig gegründet hatte.
Die in der Charlottenburger Wohnung gelagerten Archivalien waren umfangreicher als ich zu hoffen gewagt hatte und hielten erhellende Erkenntnisse über die Geschichte der Frauenbewegungen in Deutschland bereit, die damals für mich wohl zu einer Art Lebensthema geworden ist. Allerdings interessierten mich weniger die Gleichstellungs-Aktivitäten der bewegten Damen als vielmehr ihre politische Geschichte resp. ihre unterschiedlichen Einflussnahmen auf die patriarchalische Gesellschaft und die Begründungen für ihr jeweiliges Wirken sowie nicht zuletzt die Konflikte, die daraus entstanden. Deshalb konnte ich gut damit leben, dass die Dokumente aus den ersten 30 Jahren in Leipzig geblieben waren.
Der Titel meines 1990 erschienen Buches „Emanzipation zum Staat“ sollte die Entwicklung des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ zum „Deutschen Staatsbürgerinnenverband“ zwischen 1894 und 1928 ironisch auf den Begriff bringen: Die Organisation „emanzipierte“ sich gewissermaßen von den Niederungen des Frauenalltags hin zu staatlicher Politik und folgte damit übrigens dem „radikalen“ Flügel, der sich schon in den 1890er Jahren mit seiner Fokussierung auf das Frauenstimmrecht auf „Politik“ spezialisiert hatte. Beide trugen so, wie ich nahezu wertfrei hinzufüge, zur Herausbildung des Politischen als Spezialgebiet bei.
Während ich noch an dem Buch bastelte, verpasste ich allerdings im Herbst 1989 den rasanten Umbruch des Frauen- und Männer-Alltags um mich herum, ausgelöst von jenem Wunder der Politik, mit dem die deutsche Geschichte zu späterer Vereinigung gewendet wurde. Statt mich unter das jubelnd „eine“ Volk an den gerade geöffneten Grenzübergängen zu mischen, saß ich im Wintergarten der Zehlendorfer Doppelhaushälfte meiner kurz zuvor verstorbenen Mutter und beobachtete hinter meinem Manuskript komikbegabte Krähen, die unter den Kiefern scheinbaren Unsinn trieben. Als hätte ich mich in der umschlossenen Westberliner Inselruhe noch einmal ausgeruht vor der alsbald auch für mich anbrechenden Turbulenz der 90er Jahre. Turbulenz ist vielleicht ein gewagtes Wort für die vergleichsweise gesetzten, nicht selten akademisch gerahmten Aktivitäten und Events, an denen ich teilnehmen oder die ich mit initiieren durfte, als da waren Treffen, Tagungen; Konferenzen meist mit Ost-Frauen, die von Gefühlen des Staunens, der Fremdheit, Bewunderung, überraschender Nähe, oder auch von Peinlichkeit begleitet waren.
Kurz nach der offiziellen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurden wir z.B. aufgefordert, uns für einen Dokufilm als Westfrauen zu den Veränderungen in unserem Leben „durch die schnelle Einheit“ zu äußern. Wir – das war die „Berliner FrauenfrAktion“ –, die 1987 mit dem Ziel gegründet worden war, „autonome“ Feministinnen mit Frauen aus Regierung, Gewerkschaften und Frauenverbänden über Parteigrenzen hinaus zu vernetzen. Das Ziel wurde zwar nicht wirklich erreicht; aber unser Grüppchen von bis zu 10 streitbaren Feministinnen traf sich bis ins 21. Jahrhundert hinein regelmäßig zu politisch anregendem Austausch und trat hin und wieder mit Veranstaltungen oder Aktionen an die Öffentlichkeit. Bei dem Treffen Ende 1990 diskutierten wir fast unter uns aber vor laufender Kamera über unsere brandneuen Erfahrungen mit den fremden Menschen aus dem Osten und förderten dabei jede Menge eigener unvermuteter Ressentiments zutage. Das war durchaus peinlich, ließ aber auch etwas von der Ambivalenz des offiziell euphorisch begleiteten Einigungsgeschehens aufscheinen. Der Film wurde übrigens von einer alten Bekannten aus der COURAGE gedreht: Sibylle Plogstedt arbeitete inzwischen – unter anderem – als Filmemacherin.
Im Juni desselben Jahres, also lange bevor die deutsche Einheit feierlich hergestellt worden war, hatte ich an einer ersten Ost-West-Begegnung teilgenommen. Wie sich herausstellte, hielt auch diese bereits einige Peinlichkeitsfallen bereit, zumal sie auf DDR-Terrain mitten im Thüringer Wald stattfand: im Kurort Friedrichroda. Dort war vor genau 100 Jahren, nämlich an Pfingsten 1890, der Allgemeine Deutsche Lehrerinnen-Verein (ADLV) gegründet worden – die erste Frauen-Berufsorganisation im Deutschen Kaiserreich. Die innerdeutschen Grenzen waren inzwischen geöffnet; warum sollten wir also dieses Jubiläum nicht am historischen Gedenkort feiern? Wir – das waren diesmal Eva-Maria Epple und ich. Wir kannten uns aus der COURAGE und planten gerade eine neue Zeitschrift, zu der eine Würdigung des Lehrerinnenzusammenschlusses vor 100 Jahren im Osten gut passen würde. Sie sollte UNTERSCHIEDE heißen und einer anderen feministischen Zeitschrift „Frauen und Schule“ nachfolgen, an der Eva mitgearbeitet hatte und die 1989 ihr Erscheinen einstellte. Als Leserinnen hatten wir „Lehrerinnen und Gelehrte; Mütter und Töchter; Gleich- und Weichenstellerinnen; Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art“ im Blick. Dieser Untertitel sollte auch andeuten, dass es uns ja nicht etwa (nur) um Geschlechterdifferenzen, sondern vor allem um unterschiedliche weibliche Lebensformen ging. Nicht-weiße Frauen - und Großmütter - blieben unter vielen anderen noch ungenannt, zumindest auf dem Titel.
Aber zurück nach Friedrichroda. Der Rat der Stadt war erstaunlich entgegenkommend und verriet uns auf Anfrage im Februar 1990, dass der Gründungsort des Lehrerinnenvereins (damals eine Mädchenschule) „noch heute eine polytechnische Oberschule“ sei, die den Namen „Helene Lange“ trüge. Die Lehrer und Lehrerinnen seien gerne bereit, bei der Vorbereitung und Durchführung der geplanten Veranstaltung zu helfen. Helene Lange (1848-1930), die in meiner Wahrnehmung eindrucksvollste Persönlichkeit der deutschen Frauenbewegungen vor 1933, wurde 1890 in Friedrichroda zur ersten Vorsitzenden des neu gegründeten ADLV gewählt und blieb es 30 Jahre lang. Von 1900 bis 1921 war sie zusätzlich Vorsitzende des ADF, der seinen Standort ihretwegen von Leipzig nach Berlin verlegte. Von 1893 bis zu ihrem Tod gab sie, wahrscheinlich die mächtigste Wortführerin der Frauenbewegung ihrer Zeit, außerdem die renommierte Monatszeitschrift „Die Frau“ heraus.
Die autodidaktisch gebildete Privatlehrerin war 1988 durch die Veröffentlichung ihrer„Gelben Broschüre“ berühmt geworden, einer scharfzüngigen Streitschrift über die „Bestimmung der höheren Mädchenschule“, die mit vernichtender Kritik an den deutschen Mädchenschullehrern nicht geizte und ihnen schließlich die Eignung zur Erziehung des weiblichen Geschlechts komplett absprach – und zwar aufgrund des seitens dieser Mädchenschullehrer offen zur Schau gestellten Geschlechtsegoismus. Die „Gelbe Broschüre“ war nämlich auch eine späte Antwort auf eine Denkschrift des renommierten „Deutschen Vereins für das höhere Mädchenschulwesen“ von 1872, die als fortschrittlich galt, weil sie zum ersten Mal eine der Knabenbildung „ebenbürtige“ Bildung der Mädchen in Aussicht stellte. Das sollte aber nicht etwa um ihrer selbst willen geschehen, sondern – so wörtlich - „damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt und an seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt“ werde.
Man muss sich vorstellen, dass die höhere Mädchenschule damals fest in männlicher Hand war. Frauen durften noch nicht studieren und konnten nur Lehrerinnen an Volks- und Privatschulen werden. Die Gelbe Broschüre war deshalb als begründende Begleitschrift zu einer von 6 prominenten Berlinerinnen eingereichten Petition an das Preußische Unterrichtsministerium und das Preußische Abgeordnetenhaus entstanden. Diese beinhaltete 2 heute äußerst bescheiden anmutende Anträge, nämlich eine größere Beteiligung von Lehrerinnen am Unterricht in „Mittel- und Oberstufe der öffentlichen höheren Mädchenschulen“ sowie die Gründung von öffentlichen Einrichtungen zu deren wissenschaftlicher Ausbildung. Die Petition wurde un-erhört und un-erörtert zu den Akten gelegt. Statt dessen reagierten die deutschen Oberlehrer und ihre Lobby mit unbändiger und anhaltender öffentlicher Empörung vor allem auf Helene Langes ausführlichen Begleittext. Diese Empörungskampagne heizte einen öffentlichen Frauenhass an, der Anfang des 20 Jahrhunderts zur Gründung des „Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation“ führte.
Nach dieser Vorgeschichte herrschte Helene Lange zufolge eine geradezu verschwörerische Stimmung unter den 150 Lehrerinnen, die Pfingsten 1890 aus allen Teilen des Deutschen Reiches zusammengekommen waren. Sie seien davon überzeugt gewesen, dass der von ihnen erstrebte weibliche Einfluss auf die Gesellschaft nunmehr ohne (staats)männliche Hilfe erkämpft werden musste und dass sie mit der geplanten Selbstorganisation der Lehrerinnen – und somit mit dem weiblichen Einfluss auf die Gesellschaft – beginnen wollten. Offenbar handelte es sich um einen unausgesprochenen Konsens, noch ein paar Jahre zu früh, um als erklärtes Ziel auf die Tagesordnung zu kommen. Als „das Geheimnis von Friedrichroda“ beschrieb Helene Lange 30 Jahre später die Situation lapidar.
100 Jahre später waren wir mit „Geheimnissen“ ganz anderer Art konfrontiert. Es waren vor allem die Begegnungen mit den Friedrichrodaer LehrerInnen, die uns wiederholt Rätsel aufgaben – und die oben angedeuteten Fallen mit sich brachten. Beispielhaft nenne ich unser unverhohlenes Befremden, als wir Feministinnen aus dem Westen am 1. Juni 1990 von ausschließlich männlichen Mitgliedern des Lehrerkollegiums der polytechnischen Oberschule in Friedrichroda begrüßt wurden. Die Kolleginnen hätten zu viel zu tun, erklärten sie treuherzig auf unsere Nachfragen und spielten auf deren zusätzliche häusliche Pflichten an. Die Männer hatten übrigens die Tagung auch vorbereitet, wobei sie besonders viel Akribie auf die Herstellung von Souvenirs wie Küchenbrettchen und Biergläsern mit dem Konterfei Helene Langes verwendeten. Ein bisschen peinlicher wurde es noch, als wir die – scherzhaft gemeinte – Frage der Herren, ob sie dann wohl auch auf dem für den nächsten Abend geplanten Fest nicht erwünscht seien, allen Ernstes bejahen mussten.
Dass dies nicht nur rätselhaft und ungewohnt, sondern auch peinlich gewesen sein könnte, hat mir erst meine spätere Erinnerung zugeflüstert. Allerdings kam meine frauenbewegte Identität bereits am Ort der Konferenz angesichts der Solidarität der Friedrichrodaer Lehrerinnen mit ihren von uns so schlecht behandelten Kollegen kurzzeitig ins Wanken. Einige boykottierten leider fortan unsere schöne, gut vorbereitete und abwechslungsreiche Tagung. Zum Fest in lauer Sommernacht erschienen sie dann übrigens doch zu rätselhaft abgrenzend-annäherndem Ost-West-Austausch. Wir hatten immerhin ca.60 Teilnehmerinnen aus Westberlin und Westdeutschland zur Reise in den Thüringer Wald animiert, und Eva gelang es noch vor Ort, ein Klavier zu organisieren, an dem Barbara Gabler vom Kasseler FrauenmusikverlagFurore unseren kleinen Chor aus den West-Gästen begleiten – und dirigieren – konnte.
Das musikalische Highlight, das wir zur Eröffnung in der Eingangshalle der Schule erklingen ließen, hat mich als eine meiner viel zu seltenen musikalische Aktivitäten seit den 1970er Jahren bis heute begleitet: Immer wieder mal durfte ich zu besonderen Gelegenheiten das himmlische Ständchen „Zögernd leise“ von Franz Schubert mitsingen (nach dem wunderbar knarzig-zarten Text von Franz Grillparzer), dessen Aufführung aufwändige Vorbereitungen mit sich bringt. Denn das immerhin 12-seitige Werk fordert eine Solo-Mezzosopranistin, einen 4-stimmigen Frauenchor und eine Pianistin, die in unserem Fall auch Initiatorin und Chorleiterin war. Wir waren froh, für jede Chorstimme immerhin 2 Sängerinnen gefunden zu haben, und ich hatte das Glück, mir mit einer semiprofessionellen Altistin aus Frankfurt/M den 2. Alt zu teilen. Bärbel Kaiser sang das Solo schöner denn je, und als ich Jahrzehnte später zufällig die Kasette mit der unprofessionellen Aufnahme (und sogar ein Abspielgerät) fand, schien mir bei gerührtem Anhören, dass das Stück niemals schöner geklungen hatte – selbst nicht auf der CD mit der großen Christa Ludwig und dem ORF-Frauenchor. Sogleich wollte ich mich genüsslich der eitlen Überraschung noch einmal versichern und – hörte nun gar nichts mehr. Mein aufgeregter Druck auf die falsche Taste hatte die Aufnahme unwiederbringlich gelöscht
Der 5-Minuten Gesang bekam allerdings eine unerwartet negative Funktion, als es um die öffentliche Förderung dieser ersten Ost-West-Frauenbildungstagung im nahezu vereinten Deutschland ging. Sowohl das Bundesministerium für Bildung als auch das für Jugend, Senioren, Gesundheit und Frauen begründeten ihre Ablehnung der von Eva-Maria mehrfach eingereichten und überarbeiteten Anträge mit der Behauptung, es handele sich nicht um ein Fachtagungs-, sondern um ein „Festprogramm“. Dafür wurde der Programmpunkt „Ständchen“ angeführt, aber auch mein Eröffnungsvortrag über die Gründungsgeschichte der Lehrerinnenorganisation, weil er mit dem bewusst auflockernden Untertitel „Anekdotische Mitteilungen“ angekündigt war. Man hätte nicht einmal guten Willen gebraucht, um dem Programm zu entnehmen, dass Fachvorträge und fachthemenbezogener Austausch zu Frauenbildungsforschung über Frauenbewegungs- und Professionalisierungsgeschichte, die Feminisierung des Lehrerberufs in der DDR bis zur Affidamento-Bewegung in Italien und der Bundesrepublik die zweitägige Tagung dominierten.
So blieb die ganze Arbeit unbezahlt; Unkosten wurden teilweise von freundlichen Spenderinnen übernommen. Außerdem konnten wir einige Referate noch einmal verwerten, nämlich als Beiträge für das erste Heft der UNTERSCHIEDE, das im März 1991 endlich erscheinen konnte, nachdem ein Verlag gefunden worden war.
Warum eigentlich, das frage ich mich heute, wollten wir, wollte ich, damals unbedingt noch einmal eine neue Zeitschrift auf den Markt zwingen, obendrein nur zu zweit und ohne die Aussicht, dafür jemals bezahlt zu werden oder gar unser Leben davon finanzieren zu können? Immerhin produzierten wir in 3 Jahren 15 Hefte á ca. 60 Seiten (Nr. 14 und 15 erschienen im Oktober 1994 als Doppelheft). Es gab einen in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden Anlass: UNTERSCHIEDE konnte ca. 1000 Abonnentinnen der Vorgängerzeitschrift FRAUEN und SCHULE übernehmen. Um diesen Startvorteil nicht zu verlieren, mussten wir uns schnell entscheiden. In dieser Situation erwachten dann wohl länger schlummernde Motive: Wieder frei zu schreiben über alles Mögliche und Unmögliche, auch über anderes als einen noch so bedeutenden Frauenverein. Spannende Themen finden, Autorinnen, Expertinnen ausgucken, entsprechend Kontakte herstellen oder wiederbeleben. Kurz: eine Zeitschrift für Frauen machen, die an Bildung interessiert bzw. beteiligt waren – Bildung im weitesten Sinn, das war mir wichtig. Auch ein Kommentar zum gerade angegebrochenen Golfkrieg in der ersten Nummer musste z.B. darunter zu fassen sein. Und all dies realisieren mit etwas mehr Verantwortung und etwas weniger Spezialisierung als in der COURAGE (weil auf nur 2 Personen verteilt), wenn auch mit deutlich geringerer Reichweite.
Leider. Denn wenn ich mir die Hefte so anschaue, finde ich sie erstaunlich lesenswert für mehr Menschen damals und auch heute noch. Wir staunen ja ohnehin nicht selten über die Aktualität der Themen vergangener Zeiten – und was sind schon 30 Jahre? Schließlich warten wir immer noch ebenso vergeblich auf die „Emanzipation vom Auto“ wie auf „das Recht auf Kleidertaschen“. Wir könnten uns durchaus auch noch für „das weibliche Tier“ interessieren sowie für Männer wie den „Selbstgebärer“ oder „den „Sowjet-Androgyn“. Schließlich ist „Das Lesbische im weiblichen Leben“ ein Thema von Dauer und fortwährend sich wandelndem Interesse.
Und viele in UNTERSCHIEDE aufgeworfene Fragen sind nicht abschließend geklärt, z.B. wohin die Mutterrolle rollt oder ob Fanny Mendelssohns „Heimweh“ nicht eigentlich ein Fernweh war. Im übrigen ist die Sprache in der Zeitschrift oft witzig und originell – nicht nur die von Evas Texten. Auch mir standen damals offenbar ein paar mehr und ungewöhnlichere Worte zur Verfügung als früher und vor allem später, zumal ich anschießend nur noch „wissenschaftliche“ Texte produzierte. Dem lag wohl auch eine inspirierende und einfallsfördernde (um nicht „kreative“ sagen zu müssen) Zusammenarbeit zugrunde – erstaunlich streitarm übrigens. Nicht verschwiegen werden darf allerdings, dass wir dabei keineswegs immer nur zu zweit waren. Zwei bis drei wunderbare Mitarbeiterinnen (Anne-Kristin Siemering, Helke Hildebrandt, Marie-Christine Fore)kümmerten sich nämlich um den ausführlichen Serviceteil der Zeitschrift. Mag sein, dass ich dieses Projekt im Rückblick idealisiere, dennoch muss ich noch auf unsere Lieblingsrubrik zu sprechen kommen. Unter „Schmöker“ veröffentlichten wir in fast jedem Heft einen belletristischen – schwer auffindbaren – Text einer natürlich zu Unrecht vergessenen Schriftstellerin zwischen 1897 und 1964, begleitet von einem biografischen Kommentar, der die Autorin u.a. in den Kontext der zeitgenössischen Frauenbewegung zu stellen versuchte. Die ausbleibende Würdigung dieser Perlen durch unsere Leserinnen gibt mir – uns beiden! – immer noch Rätsel auf…
Parallel zur Arbeit für die Zeitschrift lief ein Forschungsprojekt zur Berliner Frauenpolitik in der Nachkriegszeit, zu deren 4 Bearbeiterinnen ich gehörte...
Als der Kalte Krieg Geschichte wurde, wagte ich mich mit meiner Inspektion der Deutschen Frauenbewegung in den Kalten Krieg nach dem 2. Weltkrieg vor...
Dieser Text bleibt leider unvollständig. Irene Stoehr verstarb am 25. Februar 2023.
Einige Stichworte, die Irene selbst noch unter ihrem hier veröffentlichten, unvollendeten Text vermerkt hatte, zu deren Ausführung wie zur Vollendung des Artikels insgesamt sie aber nicht mehr die Kraft fand, seien ohne weitere Erläuterungen als Hinweise angefügt:
Projekt Berliner Frauenpolitik (Hurwitz, Schmidt-Harzbach): 1990ff im Auftrag des Berliner Senats (Beschluss des Abgeordnetenhauses 1989?); Buchveröffentlichung: 1996
Januar – Dezember 1991 Vorbereitung und Durchführung einer internationalen Fachtagung „Frauenforschung zur deutschen Nachkriegszeit 1945-196. 6. – 8.1992 an der Humboldt Uni Berlin (mit Jan Lambertz). Förderkommission Frauenforschung der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen
Ost-West Frauenkonferenzen Heinrich-Böll-Stiftung 1995-2000
GSA 1996 Seattle
2003 New Orleans
2007 Milwaukee
(NS- Frauengeschichte Konstanz)
Projekt: Kalter Krieg und Geschlecht ab 1996 (?)
Promotion 1999
Agrarpolitik 2000
ALWIG Wohnprojekt ca. 2008 ff
TAUWERK Hospizdienst 2010 – 2015 (Thomas Oberberg + 8.Mai2015)
Berliner Cappella 2011 – 2016
Friedensklärchens Feindinnen: Klara-Marie Fassbinder und das antikommunistische Frauennetzwerk (2012)
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Anmerkungen
Irene hatte mir ihren Text im Frühjahr (?) 2022 zum „Durchgehen“ gegeben (dies hatten wir über viele Jahre wechselseitig und unkompliziert so gehalten). Fragen und Vorschläge waren bis dahin besprochen. Allerdings hatte Irene vor, an ihrem Text weiter zu arbeiten, und wollte ihn unbedingt vollenden. Dazu kam es nicht mehr. Nach ihrem Tod am 25. Februar habe ich ihren Artikel wieder in die Hand genommen und die (wenigen) Bearbeitungen eingefügt, aber auch ihre Stichworte für das Nichtmehrgeschriebene stehen gelassen.Eine Buchveröffentlichung, an der Irene zuletzt arbeitete, soll auf der Grundlage ihrer nachgelassenen Kapitel und Aufzeichnungen noch fertig gestellt werden. Irenes schriftlichen Nachlass hat das Feministische Archiv FFBIZ (Feministisches Forschungs-, Bildungs- und Informationszentrum) in Berlin übernommen, was ihrem Wunsch entsprach. Der von i.d.a., dem Dachverband der deutschsprachigen Lesben- und Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen herausgegebene digitale „META-Katalog: Frauenbewegungsgeschichten. Gemeinsam suchen, gemeinsam finden.“ verzeichnet zu Irene Stoehr 141 Veröffentlichungen.
eme
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