Überschriften wurden mit Letraset „gerubbelt“, jeder Buchstabe einzeln geklebt. Ein Blindtext musste ausgezählt werden, um den Platzbedarf eines Artikels zu berechnen. Für jede Schrifttype gab es Heftchen mit Blindtext. Ein Vorentwurf jeder einzelnen Seite des Heftes wurde auf Papierbögen mit aufgeklebten Fotokopien der Abbildungen und Blindtextfahnen, seitenweise an die Wand geheftet. Die Seiten mussten in der Reihenfolge, welche die Druckmaschinen unseres Druckers vorgaben, gestaltet werden. Wir kämpften um den Bildanteil, um Fotos und Illustrationen. Die Redakteurinnen und Journalistinnen, die im vorderen Teil der schönen Berliner Altbauwohnung im lichtdurchfluteten Redaktionsraum saßen und schrieben, kämpften um ihre Texte. Die Grafikerinnen wollten keine „Bleiwüsten“ im Heft, die Redakteurinnen wollten ihre Texte nicht verkürzen. Da waren die Konflikte vorprogrammiert.
Während der Produktion eines Heftes saßen wir im hinteren Teil der Redaktion, in unserem Atelier an Lichttischen inmitten von Papierbergen, Scheren, Fixativ, Linealen, Letraset, Zeichenmaterialien, Fotos und Zeichnungen, Stiften, Pinseln. Abfälle und Verworfenes landete auf dem Boden. Wenn alle entworfenen Seiten an der Wand angepinnt waren, kamen die Damen der Redaktion zur Abnahme. Nach langen Diskussionen wurde man sich immer einig.
Im Nebenzimmer saß, zusammen mit Frederike, dem riesigen Computer für die Abos, die Studentin Rita an der Fotosatzmaschine und setzte die Texte für die dem Vorentwurf folgende Reinzeichnung. Meistens war dies ein Ringen mit der Zeit, das Datum der Endredaktion drohte jeden Monat wieder neu und überraschend über uns hereinzubrechen.
Oft wurden Texte noch kurzfristig geändert, Inhalte noch mal neu recherchiert, Artikel oder Fotos wurde kurzfristig mit einem anderen ausgetauscht, ein Text kam hinzu, dafür musste ein anderer auf die nächste Ausgabe warten. Wenn das Inhaltsverzeichnis fertig war, konnten wir Grafikerinnen dann mit der „Reinzeichnung“ anfangen. Das bedeutete, anhand unseres Entwurfes mit Blindtext und Fotokopien, alles in reinster Form noch einmal zu kleben, diesmal mit den Originalfotos und den original gesetzten Schriftfahnen. Jetzt durften
wir uns kein Fleckchen, keine schiefe Linie, keinen unregelmäßigen Schriftzug, kein schräg aufgeklebtes Textstück leisten.
Was heute digital in kurzer Zeit in größter Genauigkeit geleistet werden kann, war für uns damals diffizile Handarbeit von Tagen und Nächten. Vor der Deadline waren wir meistens nachts um 4 Uhr fertig mit unserem Heft und jedes Mal befiel uns die größte nächtliche Euphorie, die man sich vorstellen kann, wenn wir uns endlich sicher waren, dass keine falsche Seitenzahl, keine schräge Überschrift, kein schlechtes Foto, kein falscher Autorinnenname oder verwechselte Bildunterschriften das Ergebnis störten.
Die Papiervorlage wurde am nächsten Morgen eilig zum Reprofotografen gebracht, der Seite für Seite verfilmte und für den Druck fertigstellte. Mit den Filmen im Gepäck ging es dann über den damals schon überlasteten Tempelhofer Damm zu einer alternativen Zeitungsdruckerei. Die garantierten uns zwar gute Preise aber keine gute Druckqualität.
Jedes Mal war es wieder eine Enttäuschung für mich. Die mangelnden Kontraste, das gelbe Papier, das allgemeine Grau in Grau, die verschwommenen Fotos. Aber da war nichts zu machen, es war eine finanzielle Frage. Wir konnten uns nur den Zeitungsdruck leisten.
In der ersten Woche nach der Produktion ging es dann ans große Aufräumen in unserer Werkstatt, bevor mit dem Festlegen des neuen Titels seitens der Redaktion alles wieder von vorne losging.
Seit ich in der Courage angefangen hatte, war es immer um den drohenden Untergang gegangen. Mit besorgten Gesichtern saßen wir in unseren Redaktionssitzungen und ließen uns von unserer Finanzfrau Doris über die neuesten Entwicklungen unterrichten. Es sah meistens nicht gut aus. Jedes neue geschlossene Abo wurde bejubelt, dafür mussten wir aber zunehmend mehr gekündigte Abos hinnehmen. Die Verkaufszahlen an den
Zeitungskiosken gingen auch zurück und wir kämpften. Unsere Löhne wurden teilweise ausgesetzt, bzw. in mehreren Teilen ausgezahlt, es wurde unübersichtlich. Als die Redakteurinnen eine Rettungsmaßname in Form einer Wochenzeitung anstatt des Monatsheftes beschlossen, habe ich meinen Abschied eingeleitet. Ich glaubte nicht an dieses Projekt.
Mein Leben entwickelte sich weiter, als Grafikerin hatte ich noch einen schönen Erfolg mit dem Zuschlag zur Gestaltung des offiziellen Berlin-Signets zur 750 Jahr-Feier. Danach entwickelte sich die Malerei aber immer mehr zum Mittelpunkt meiner Tätigkeit. Ich lebte mehr oder weniger freiberuflich als Künstlerin, heiratete einen Maler, bekam einen Sohn, gründete in den 90ern die Kindermalschule Kunstraum Kleinmachnow, die ich 10 Jahre leitete.
2012 übernahm ich die künstlerische Leitung des Offenen Ateliers St.Hedwig. Hierbei handelt es sich um ein sehr lobenswertes Projekt des katholischen St.Hedwig Krankenhauses in Berlin Mitte. In großen professionell ausgestatteten wunderschönen Atelierräumen können hier psychisch und mental eingeschränkte Menschen unter Anleitung von professionellen Künstler*innen arbeiten und die Kunst und das künstlerische Schaffen selbst als Therapie erleben, ohne dass jemand therapeutisch in das Geschehen eingreift. Die
Erfahrung dieser 8 Jahre haben sich unwiederbringlich in mein Leben eingebrannt und mir einen großen Gewinn für mein Leben und meine Arbeit gebracht. Heute lebe ich seit fast 2 Jahren mit meinem Mann auf dem Lande in einem kleinen Haus mit 2 großen Ateliers und einem Garten. Unser Sohn ist ein engagierter Investigativ-Journalist und lebt natürlich noch in Berlin. Mir fehlt Berlin (noch) nicht.
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