Bevor ich mit dem Drehbuch begann, flog ich erstmals nach New York zu Lutze. Sie war neben Tabea Blumenschein die zweite Hauptdarstellerin in „Bildnis“ gewesen und hatte mich eingeladen, sie zu besuchen.
Eine große, helle Wohnung in der Second Avenue in der Lower Eastside, an jeder Wand Werke von jungen Künstlern, darunter auch ein Grafitti von Basquiat. Lutze, damals Ende 40, fuhr jeden Morgen mit dem Rennrad zur Sauna, ich stromerte mit neuen Künstlerfreunden durch Manhattan, tauchte ein in die ekstatischen Nächte des New York Underground und scheiterte kläglich an den Rollerblades, die damals gerade in Mode kamen. Meine Eindrücke hielt ich in Scrapbooks fest, sie stehen noch heute in meinem
Regal.
Mani Stelzer, Freund und Filmregisseur, war auch gerade in New York. Auf der Suche nach einem Filmstoff für seinen Abschlussfilm an der Dffb (Deutsche Film- und Fernsehakademie), brachte er mich mit einer feministischen Comedytruppe zusammen. Wild entschlossen, der Berliner Frauenbewegung eine Prise Humor zu verpassen, holte ich die „Msfits“ nach Berlin. Es war gerade Sommeruni für Frauen und jede Vorstellung im Kant-Kino war ausverkauft. Danach ging es auf Tournee. Ich kutschierte uns in einem VW-Bus der Dffb durch Deutschland - Hamburg, Nürnberg, München - Applaus überall. Dass von den zehn „Msfits“ neun jüdisch waren, kapierte ich erst, als Roz Jacobs mich in Hamburg um Hilfe bei einem Telefonat bat. Sie wollte herausfinden, ob sie mit Jacobs Kaffee verwandt ist. Es war das erste Mal, dass ich jemanden Jiddisch sprechen hörte… Mit Roz und ihrer Gefährtin Laurie bin ich heute noch befreundet, ihr Lebenswerk, das Memory-Projekt zum Thema Holocaust, ist mehr als einen Besuch im Netz wert.
Das Leben der niederbayrischen Dichterin Emerenz Meier inspirierte mich zu meiner nächsten Filmgeschichte. „Die Reise ins Amerika“, ein Drehbuch für einen Spielfilm über ausgewanderte Deutsche in Chicago um die Jahrhundertwende, wurde vom Kultusministerium gefördert. Ich las Briefe von Emerenz und anderen Auswanderern in der Bayrischen Staatsbibliothek, studierte Fotobände, fuhr durch den Bayrischen Wald, besuchte Heimatmuseen und versank in historischen Romanen. Eine bereichernde und erhellende Arbeit, ein Film wurde daraus leider nicht. „Ein großes Werk zu früh geschrieben!“ lautete das Urteil des Direktors der dffb, ich hatte ihn gebeten, mich mit Produzenten zusammenzubringen. Mit Anfang Dreißig galt ich als Regisseurin zu jung und unerfahren, außerdem waren historische Spielfilme in jenen Jahren gerade mal wieder out.
Das Private ist politisch Aber es sind nicht allein die beruflichen Interessen und Entscheidungen, die unseren Lebensweg ausmachen.
Mindestens genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, ist das private Leben. In der Frauenbewegung kämpften wir darum, dass anerkannt wurde, was wir am eigenen Leib erfuhren: Das Private ist politisch. Ob es die Beziehungskiste mit dem Typen war, wie wir damals sagten, oder die Diskussionen in gemischten Gruppen, zwischen den Wahrnehmungswelten der Frauen und der Männer tat sich ein tiefer Graben auf. In meinem Fall führte das dazu, dass ich meine gemischte WG in der Bleibtreustraße verließ und an den Cosimaplatz 2 zog. Wir waren vier Monikas und eine Biggi und eine der ersten Frauen-WGs in Berlin. Eine politisch sehr aktive WG, denn von den Cosi-Frauen und ihren Freundinnen gingen wichtige Impulse für mehrere Frauenprojekte aus. Legendär zum Beispiel „Rock im Rock“, das erste große Frauenfest 1975 in der TU-Mensa. Die späteren Flying Lesbians gaben dort als erste deutsche Frauenrockband ihren Einstand. Fünftausend Frauen rockten zu ihrer Musik und himmelten die neuen Stars auf der Bühne an.
Im Sommer 1975 machte ich meinen Abschluss an der FU in Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie, aber als Diplompädagogin zu arbeiten, konnte ich mir nicht vorstellen. In Berlin herrschte damals schon Arbeitslosigkeit, ich hätte wegziehen müssen, nach Westdeutschland, das wollte ich auf keinen Fall. Lieber gab ich Kurse über die Frauenbewegung an der VHS, zusammen mit Chrille. In unserem „Frauenforum“ in der Gropiusstadt führten wir Frauen in die Praxis der gynäkologischen Selbstuntersuchung ein, zum Thema Sexualität machten wir eine Exkursion ins Pornokino am Bahnhof Zoo. Die Frauen wollten wissen, was ihre Männer sich anschauen. Unvergesslich, wie die Männer in den Kinosesseln vor Schreck noch tiefer rutschten, als quasi ihre eigenen Frauen neben ihnen Platz nahmen.
Verständnis für Frauenprobleme und feministische Solidarität genügten damals, um Frauen in schwierigen Lebenslagen zu helfen. Die Beratungsstunden im Frauenzentrum in der Hornstraße waren überlaufen. Wir hatten nun unsere Studienabschlüsse und wollten uns professionalisieren. Die Gründung der „BIFF - Beratung und Information für Frauen“ war ein erster Schritt dazu. In vielen Sitzungen am Cosi entwickelten wir die Grundlagen für einen neuen Therapieansatz. Mit der Broschüre „Anfänge einer feministischen Therapie“ nahm die BIFF 1975 ihren Anfang. Sie entwickelte sich später weiter zur PSIFF - Psychosoziale Beratung für Frauen, und die existiert noch heute.
Der erste Taek-Won-Do-Kurs nur für Frauen ging ebenfalls vom Cosimaplatz aus. Mit ihm startete die Selbstverteidigungsbewegung der Frauen, die in den folgenden Jahren ganz Deutschland ergriff. Ich habe es damals zwar nicht bis zum schwarzen Gürtel gebracht, aber auf den grünen war ich auch stolz. Sport an sich war bis dahin nie wirklich mein Ding gewesen, dieser Kampfsport aber machte uns stark, wir lernten wie wir uns notfalls gegen Angriffe von Vergewaltigern und anderen Gewalttätern wehren konnten. Die erste Regel lautete: Weglaufen! Wenn das nicht möglich ist - lostreten!
Der Ernst des Lebens
Mit der Gründung der Courage und der vielen Arbeit, die Zeitung machen mit sich bringt, schrumpfte die Zeit für Vergnügliches immer mehr zusammen. Der Ernst des Lebens hatte begonnen, ohne dass ich es zunächst bemerkt hatte. Vormittags Büro in der Courage, nachmittags Redaktionssitzungen bis in die Nacht hinein, mehrmals die Woche VHS-Kurse geben und Kellnern gehen, um den Lebensunterhalt zu verdienen,
16 Stunden-Tage waren normal. Aber wir dachten nicht in Überstunden, wir wollten was bewegen und das machte Spaß. Zu erleben, wie die Courage wächst, berichten über die vielen feministischen Initiativen im Land und international, die verborgene Geschichte der Frauen in allen Bereichen auszugraben, die aktuelle politische Lage aus feministischer Sicht kritisch zu beleuchten, war so notwendig wie erhellend. Ich fand es
super, eine Couragefrau zu sein und eine so wichtige Arbeit zu machen, mit Frauen für Frauen. Dass es zwischen Feministinnen auch zu Konflikten kam, war die andere Seite der Medaille.
Aus der Cosi-WG hatte ich ausziehen müssen, weil die Hauptmieterin unsere WG in eine reine Lesben-WG umwandeln wollte. Ich lebte nun erstmals allein, in einer kleinen Hinterhauswohnung mit Ofenheizung in der Akazienstraße. Das Alleinleben hatte den Vorzug, dass ich unbegrenzt Zeit in die Courage investieren konnte, meiner Psyche aber tat es gar nicht gut. Ich erinnere mich an einen Abend, als ich mich plötzlich aus der Vogelperspektive sah - allein in meiner Küche in der großen Stadt, weit und breit niemand... Nein, so wollte ich nicht leben!
Pension Winterelend
Kurze Zeit später zog ich in die Bregenzer 10. Barbara Duden wollte aus ihrer gemischten WG eine Frauen-WG machen und suchte Mitbewohnerinnen, Mitstreiterinnen. So entstand die „Pension Winterelend“, wie wir unsere Frauen-WG später nannten. Im Berliner Zimmer fanden die Vorbereitungstreffen für die 1. Sommeruni für Frauen statt, eine andere Gruppe diskutierte die Prämissen von „Lohn für Hausarbeit“, das alles war politisch und privat zugleich.
Fünf Zimmer und sechs Frauen, zeitweise sogar mehr, denn als im Kältewinter 1978 in Kreuzberg die Wasserleitungen zufroren, zogen weitere Frauen bei uns ein, bald waren alle Betten doppelt belegt. Wir überlegten ernsthaft, ob wir uns nicht ausstellen sollten, als lebendes Museum, mit roten Kordeln vor unseren Zimmern. Eines Tages schleppte Barbara ein großes Messingschild an mit der Aufschrift „Pension Winterelend“, Schwarz auf Gold, es sollte am Hauseingang angebracht werden. Warum haben wir das eigentlich nicht gemacht? Vielleicht musste Barbara wieder in ihren Elfenbeinturm im 11. Stock im
Telefunken-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz, um ihre Diss fertig zu schreiben. Die Zeit im Winterelend ist, was das Privatleben angeht, meine schönste Zeit gewesen - lustig, zeitweise schrill, herzlich und großzügig. Sie verdient ein extra Kapitel.
Filme machen
Der alte „Dschungel“ am Winterfeldtplatz war die Kneipe, in die man damals jede Nacht ging. „Bewirb dich doch auch an der dffb!“ sagte Ebba zu mir. „Die halbe Kneipe bewirbt sich schon.“ Gesagt, getan – ich reichte meine Bewerbung für die Aufnahmeprüfung ein und wurde zugelassen. Die Prüfungswoche genoß ich richtiggehend, ich spürte, Filme machen ist echt mein Ding. Ich wurde aufgenommen. Damit begannen die nächsten schönsten Jahre meines Lebens. Dieses wunderbare Gefühl, eine Gruppe von Menschen um mich zu haben, die mir helfen, meine Phantasie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Auch wenn es schwer war, jeden dieser Filme zu machen, Überstunden, Nachtarbeit, nie endendes Weiterarbeiten bis zum letzten Augenblick, sie hört so lange nicht auf, die Arbeit an einem Film, bis er auf der Leinwand oder dem Bildschirm zu sehen ist. Und meist zahlt man drauf, finanziell. Daher kann sich diesen Beruf auch nur leisten, wer Geld von woanders bekommt, von den Eltern oder vom Erbe. Ich hatte dieses Glück nicht, noch dazu war ich Frau, zu einem Zeitpunkt, als Filmregie fast noch eine reine Männerdomäne war. Bis heute müssen die Handvoll Film-Pionierinnen der 1970er Jahre als weibliche Aushängeschilder für den deutschen Autorenfilm herhalten. Wohlverdient, diese Anerkennung und historische Verankerung! Aber jeder Jahrgang der dffb war zu 50 Prozent weiblich, das hatte sich die Studentenschaft erkämpft. Was ist aus diesen 42 Jahre mal 9 Studentinnen/Absolventinnen geworden? Kein Bild, kein Ton. Keine Studie, kein Filmfestival. Hunderte Filme von dffb-Absolventinnen liegen unbeachtet und undigitalisiert im Archiv der Deutschen Kinemathek. Anscheinend ist die Filmgeschichtsschreibung männerorientiert ist wie eh und je. Ein Thema für sich.
Von 1981 bis 1986 lernte ich, wie man Filme macht. Mein erster Spielfilm „Private Moment“ hatte seine Premiere auf der Berlinale und bekam kurz darauf bei einem Int. Filmfestival in Polen mehrere Filmpreise.
Mit „Erfolg“, meinem Abschlussfilm, lief es ähnlich gut. Er wurde bei der Internationalen Filmwoche Mannheim mit dem Goldenen Filmdukaten ausgezeichnet und ich erhielt 2000 DM Preisgeld. „Der Blaue Mond“, mein dritter Spielfilm, eine Kinokoproduktion mit dem WDR, bekam leider nicht die erhoffte Resonanz. Die Mauer war gefallen, das veränderte die Sicht der Kritiker auf meine Filmgeschichte. Ich hatte den Fall der Mauer in meiner Geschichte als Traum inszeniert. Jetzt, wo es wirklich geschehen war, wurde mein Stilmittel als zeitgeistig niedergemacht, vor allem von ostdeutschen Kritikern, deren Urteil 1990 in Filmjurys ein großes Gewicht hatte. Dass ich das Drehbuch bereits 1987/88 geschrieben hatte, interessierte keinen. Der Produzent rührte fortan keinen Finger mehr für den Film, der Redakteur wandte sich anderen Nachwuchstalenten zu und meine Beziehung ging in die Brüche - eine weitere schmerzhafte Folge des Berliner Mauerfalls. Tapfer schrieb ich weiter Exposés und erhielt wieder Drehbuchförderung. Bis zum nächsten Film würden noch Jahre vergehen. Ich beschloß, mich rechtzeitig und vor allem selbst um die Finanzierung des nächsten Films zu kümmern und fuhr mit der ersten Drehbuchfassung von „Mein Sommer mit Carola“ nach Stuttgart zum Süddeutschen Rundfunk. Dort saß der Redakteur, der mich mal versuchsweise einen Drehbuchentwurf für eine Serie hatte schreiben lassen. Als ich ihm mein neues Filmprojekt vorstellte, eine Kindheitsgeschichte im Dritten Reich, fand er es zwar interessant, hatte aber keinen Programmplatz dafür. Stattdessen bot er mir einen Job in seiner Serienredaktion an. Drei Wochen später war ich Redakteurin in der Abteilung Fernsehspiel und Serie und stellvertretende Leiterin der Dramaturgie. Oder wie der damalige Intendant es humorvoll ausdrückte: „Na gut, Frau Schmid, dann bezahlen wir Sie mal dafür, dass Sie lernen, wie Fernsehen geht!“ Ich legte los.
Behind the screen
Um 4 Uhr aufstehen, Duschen, Schminken, Packen. Was zieh ich an, ich brauch ja auch Klamotten fürs Abendessen?! Taxi ist da, ab zum Flughafen! Im Check-In nur Männer in Anzügen, den Chef begrüßen, dann rein in den Krawattenbomber nach Hamburg, Berlin, Bremen, Paris, Straßburg, Toscana. In den vier Jahren beim SDR war ich die Hälfte der Zeit auf Reisen. Drehbuchbesprechungen, Filmabnahmen, Pressetermine und immer wieder die Programmkonferenz. Die Teilnehmer, zwanzig Männer und vier Frauen, Chefs der Vorabendprogramme aller Länder der ARD, Regionalfürsten nannte mein Chef sie ironisch. Mit 40 war ich die zweitjüngste Teilnehmerin und seine Stellvertreterin. Keine der teilnehmenden Frauen war Chefin. Manche eigentlich schon, sie hatten das Sagen, aber der Mann an ihrer Seite hatte den Posten. Alle drei Monate traf man sich in dieser Runde, um zu entscheiden, welche Fernsehserien in Auftrag gegeben werden. Ich kam aus dem Staunen nicht raus, welche Summen verhandelt wurden. Mein Kinofilm hatte
350 000 DM gekostet, das war viel Geld, hier ging es um Millionenbeträge, die unter verschiedenen Serienproduzenten aufzuteilen waren.
Ich lernte nun wie man Fernsehserien entwickelt, beurteilt und herstellt, castete Schauspieler, Autoren und Regisseure. Die erste Serie, die ich redaktionell betreute, drehte sich um zwei Frauen, deren Freundschaft auf die Probe gestellt wird, als sich die Tochter der Französin in den Ehemann ihrer deutschen Freundin verliebt.
„Tout feu, tout femme“, zu deutsch „Feuer und Flamme“, war eine deutsch-französische Coproduktion mit 60 Folgen á 30 Minuten. Meine Arbeit bestand darin, 60 Drehbücher sowie die gedrehten Folgen in beiden Sprachen und mehreren Fassungen zu lesen, zu beurteilen und zu besprechen. Ich reiste zu Besprechungen nach Paris, Baden-Baden, Straßburg und Stuttgart und flog zu Filmabnahmen bei France 2 in Marseille. Oder war es Bordeaux? Oder Lyon? In der Rückschau verschwimmen die Orte. Was bleibt ist die Frau, die diese Serie als Produzentin gestemmt hat, Renate Roginas. Wir sind heute noch miteinander befreundet.
In den folgenden Jahren produzierte ich den „Tatort“ aus Stuttgart und parallel dazu mit anderen ARD-Sendern weitere Serien. „Nicht von schlechten Eltern“, eine Familienserie, die von meinem Kollegen Bernhard Gleim von Radio Bremen verantwortet wurde, führte mich immer wieder in den Norden. Berlin rückte näher und die Hoffnung wuchs, eines Tages in die alte Heimat zurückzukehren. Privat bekam ich im Ländle kein Bein auf den Boden. Ganze drei Mal war ich in vier Jahren privat eingeladen - einmal von meinem Chef und zweimal von einer Kollegin, die alleinerziehende Mutter war. Manchmal verbrachte ich den Sonntagvormittag in der Staatsgalerie vor den Gemälden von Rothko und fuhr danach zum Hauptbahnhof oder zum Flughafen, um nicht allein essen zu müssen. Ab und zu rettete ich mich nach Bremen. Dort führte Barbara Duden inzwischen ein offenes Haus. Die szenische Lesung ihrer wissenschaftlichen Texte, die heiteren und klugen Vorlesungen ihres Gefährten Ivan Illich, die freundlichen Menschen aus aller Welt taten meiner Seele gut. Das Problem Stuttgart war damit nicht gelöst. An einem Sonntagmorgen, ich stehe verpennt in der Küche und gieße mir einen Filterkaffee auf, da erklingt aus dem Radio der alte Schlager „Pack die Badehose ein…“. Bei „...und dann fahren wir raus zum Wannsee“ breche ich in Tränen aus. Heimweh nach Berlin! Ich muss hier weg! Stuttgart ist kein Ort für Leute wie mich - weiblich, ledig und über Vierzig.
Meine Verzweiflung im selbstgewählten Exil, wie ich Stuttgart manchmal nannte, spiegelt sich in schwermütigen Gedichten und Texten wider, in denen ich meiner verlorenen Liebe nachtrauere und mir vorwerfe, als Filmemacherin versagt zu haben. Jedes Mal, wenn mir damals jemand zu meiner „Karriere“ gratulierte, war ich peinlich berührt und fühlte mich verpflichtet, richtigzustellen, dass Fernsehredaktion doch keine Karriere sei! Wäre ich Filmregisseurin geblieben und hätte weiter Filme gemacht so wie… ja, wie wer eigentlich? Keine Frau aus meinem Jahrgang hatte es geschafft, nach Abschluss des Filmstudiums eigene Spielfilme zu machen und als Autorenfilmerin zu überleben. Ich aber wollte das immer noch - against all odds! Um mein Ziel zu erreichen, musste ich zurück nach Berlin. Da war meine Heimat, mein kreativer Ort, die Stätte meiner bisherigen Erfolge und vor allem meine Freundinnen und Freunde - Gemeinschaft!
Was Hamburg mit Kebab und Sauerkraut zu tun hat
Ich machte Zwischenstation in Hamburg, genauer gesagt bei Studio Hamburg Produktion. Eine ARD-Redakteurin nahm man mit Kusshand, wegen ihrer Verbindungen in die Redaktionen, außerdem hatte Renate mich empfohlen. Unbefristete Festanstellung als Producer, ein fast doppelt so hohes Gehalt, sogar der Umzug wurde bezahlt. Hochmotiviert setzte ich um, was ich gelernt hatte und schon bald hatte ich den ersten großen Auftrag akquiriert - eine Sitcom für Pro Sieben. Die Sitcom stand man damals in der deutschen. Fernsehindustrie noch am Anfang, es gab nur synchronisierte amerikanische Formate. Mit „Kebab und Sauerkraut“ wollte Pro Sieben sich als der deutsche Sitcom-Sender etablieren. Das Konzept, entwickelt mit einer Freundin, der Filmemacherin Sema Poyraz, kreiste um das chaotische Leben einer türkisch-deutschen Familie, die Pilotfolge war vom Testpublikum mit der Note 1+ bewertet worden. 1996 begannen die Dreharbeiten der ersten 13 Folgen, nach sechs Folgen Abbruch... Warum diese originelle Serie zweimal gedreht, aber nie gesendet wurde, dafür reicht der Platz hier nicht aus. Ich jedenfalls war darüber todunglücklich und empfand es als Niederlage. Ein Jahr später, nachdem ich die ARD-Serie einer Hamburger Autorin zur Produktionsreife gebracht hatte, kehrte ich zurück nach Berlin.
Berlin, Biester und Liebende
Berlin ist nicht mehr wie früher! Berlin ist schrecklich! Komm nicht zurück! Tu dir das nicht an! - So lautete der Tenor meiner Freundinnen. Aber ich ließ mich nicht abschrecken, ich war mit meiner eigenen Serie gescheitert und ich hatte als Alleinfrau Stuttgart überlebt. „If you survive there, you’ll survive anywhere!“ lautete meine Devise. Aus meinen Konfrontationen mit dem was man gemeinhin Macht nennt, wusste ich, dass auch Berlin künftig immer härter, teurer und unbarmherziger werden würde, wie Westdeutschland eben.
Aber egal, ich hatte es geschafft, wieder zu Hause zu sein. Auf der Roten Insel, direkt am Gustav-Müller- Platz fand ich eine Wohnung, übrigens nahe der ersten feministischen Frauen-WG West-Berlins, in der 1973 Roswitha Burgard, Chrille Müller und Ursula Scheu gewohnt hatten. Im vierten Stock auf Augenhöhe mit der Kirchenkuppel und jeden Sonntagmorgen geweckt von den Glocken, schrieb ich Entwürfe für Fernsehspiele und Konzepte für Serien. Ich hatte mich arbeitslos gemeldet und war nun wieder als Freie unterwegs auf der Suche nach Finanzierung meiner Projekte. Das Glück wandte sich mir wieder zu und zwei Jahre später liefen im ZDF-Vorabend eine 13-teilige Familienserie und im Hauptabend ein Fernsehspiel aus meiner Feder. „Die Biester“ war eine Zusammenarbeit mit Susanne Schneider. „Die Liebenden vom Alexanderplatz“, ein Fernsehspiel mit Inge Meysel in der Hauptrolle, hatte ich allein verfasst. Es ging voran, sollte man meinen. Aber im Mediengeschäft läuft es selten so wie man denkt. “Mobbing Matilda“, mein nächstes Filmprojekt, lag, was die Realisierung angeht, bei der falschen Produktion und bei der falschen Redaktion. Nach sieben Drehbuchfassungen und einem Jahr fast ohne Einnahmen verabschiedete ich mich aus dem Projekt. Eine weitere finanzielle Durststrecke konnte ich mir nicht leisten. Ich nahm das Angebot des NDR an, die Entwicklung der ersten ARD-Telenovela redaktionell zu betreuen.
Rote Rosen - Die Erste
Mit „Rote Rosen“ tat sich ein neues Arbeitsfeld auf, das an Herausforderungen alle vorherigen übertraf. Das Produktionstempo der Telenovela ist atemberaubend schnell. Dreht man bei einem Fernsehfilm am Tag drei bis fünf Minuten Spielfilmzeit, sind es bei der Telenovela 45 Minuten täglich, also eine Folge pro Tag. Meine Aufgabe bestand darin, erst die Drehbücher und später die gedrehten Folgen redaktionell abzunehmen. Ich las Drehbücher und schaute Folgen überall, im Büro, im Zug zwischen Lüneburg und
Berlin, im Café, im Bett. Ich schlief über Drehbüchern ein und wachte neben ihnen auf. Telenovela-Drehbücher sind oft sterbenslangweilig zu lesen, sie bestehen zu 90 Prozent aus Alltagsdialogen, die Handlungsabläufe und Konflikte sind vorhersehbar und wiederholen sich. Als Redakteurin weist du auf Doppelungen und Wiederholungen hin, mahnst „out of character“ an und bestehst auf korrekten fachlichen Angaben. Natürlich segnet die Redaktion auch die Schauspieler ab, aber wenn alle Rollen besetzt sind, ist dieser kreative Teil der Arbeit abgeschlossen. Erneut lebte ich in einer fremden Stadt, in der ich niemanden kannte, untergebracht war ich in einem Hotel. Für Selbstversorgung wie Einkaufen, Kochen, Wäsche waschen usw. wäre keine Zeit gewesen. Manchmal fuhr ich mit Drehbüchern beladen übers Wochenende nach Berlin, um wenigstens abends mal Freunde zu treffen. Unter diesen Bedingungen meine Jahre bis zur Rente zu verbringen, konnte ich mir nicht vorstellen. Als mein Vertrag verlängert werden sollte, lehnte ich ab.
Dffb und ifs
Seit Jahren schon arbeitete ich parallel zu meinen anderen Tätigkeiten auch als Dozentin an Filmhochschulen, mein Fach „Dramaturgie der Fernsehserie.“ Ob in der Masterclass Serie an der Dffb oder in Köln an der ifs (Internationale Filmschule), ich durfte Filmstudierenden beibringen, wie man im Writer´s Room eine Fernsehserie entwickelt. Jungen Frauen und Männern helfen, ihren Platz im Berufsleben finden, ihnen Stütze und Vermittlerin sein, damit fühlte ich mich am richtigen Platz. Die Zeiten an der ifs zählen mit zu den schönsten meines beruflichen Lebens. Experimente, Irrtümer, Scheitern, alles war erlaubt, Macht wurde noch klein geschrieben.
Rote Rosen - Die Zweite
Irgendwann klingelte das Telefon. „Rote Rosen“ bat um Unterstützung, die Kommunikation zwischen den Autoren und meiner Nachfolgerin war auf unter Null eingefroren. Ich verhandelte einen Vertrag als Consultant und bald darauf saß ich wieder im Zug nach Lüneburg. Binnen einer Sitzung war das Eis gebrochen und alle konnten sich wieder in die Augen sehen, sprich weiterarbeiten. Mir als Autorin vertraute man die Entwicklung des Konzepts für die zweite Staffel an. In Zusammenarbeit mit zwei Kolleginnen kam das Werk in der vereinbarten Zeit zustande, die Redaktion nahm es ohne Probleme ab, die Verlängerung der Serie war gesichert und alle waren froh.
Alisa, Hanna und Lena - Liebe meines Lebens
Wenig später ein Anruf vom ZDF, man bot mir die „Leitung Redaktion und Koordination der ZDF-Telenovelas“ an. Ich bekam einen Vertrag auf Festanstellung, begrenzt auf zwei Jahre, aber immerhin, ich war damals schon 59 Jahre alt. Von 2009 bis 2010 fuhr ich mehrmals die Woche von Berlin zum Studio Babelsberg zu Drehbuchbesprechungen und Filmabnahmen von „Alisa“ und „Hannah“. Ich hatte meine Jobzusage an die Bedingung geknüpft, mit einem Redaktionsteam arbeiten zu dürfen. Mit Elke Weber-Moore und Eva Strasser waren wir nun zu dritt. Damit war das Verhältnis der Sitzungsteilnehmerinnen ausgewogener als bei den „Rosen“, wo es meist Eins zu Sechs gewesen war. Jetzt konnten wir uns vorab besprechen, in den Sitzungen bestärken und hinterher lästern oder lachen. Die Arbeit wurde zwar nicht weniger, weil das Tempo weiterhin unmenschlich blieb, aber sie lastete nicht mehr so schwer.
Der nächste Auftrag ging an eine Kölner Produktionsfirma, ich wurde wieder Reiseredakteurin und flog zwischen Berlin und Köln hin und her. Die jungen Produzenten machten zum ersten Mal eine Telenovela, das brachte neue Schwierigkeiten mit sich. Die Drehbuchentwicklung lief mühsam, die Produktion kämpfte mit technischen Problemen, eine Sitzung jagte die nächste, ich mutierte zum Krisenmanager. Aber auch in Köln waren wir mit Anna Bütow und Marieke Gleim wieder drei Frauen in der Redaktion. 2011 ging „Lena - Liebe meines Lebens“ im ZDF auf Sendung, von Montag bis Freitag jeden Nachmittag 45 Minuten, 240 Folgen. Die ZDF-Intendanz hatte eine utopisch hohe Einschaltquote zur Bedingung für eine 2. Staffel angesetzt. Mit jeder Woche robbten wir uns an diese Zahl näher heran, das Klassenziel war in greifbarer Nähe, da ereilte uns die Nachricht, dass „Lena“ nicht verlängert wird. Die Produktion von ZDF-Telenovelas werde eingestellt, stattdessen würden für diesen Programmplatz künftig Koch-Shows produziert. Wie bitte?!
Telenovelas haben Tradition beim ZDF, sie sind beliebt beim Publikum, sie kosten wenig, bringen gute Einschaltquoten, warum also nicht weitermachen? Die Antwort ist einfach - Kochshows sind billiger. Und sie generieren genauso viele Zuschauer, besser gesagt Zuschauerinnen, denn das ZDF-Publikum ist am Nachmittag zu 80 Prozent weiblich. Der anhaltende Erfolg der Koch-Shows - von Männern für Frauen - gibt den Entscheidern leider recht.
Wie kann eine Feministin Telenovelas machen? Telenovelas sind konservativ und zementieren das traditionelle Frauenbild, so lautet die gängige Meinung. Leute, die diese Ansicht vertreten, haben meist keine einzige Folge einer Telenovela gesehen. Kurz gesagt, ich hatte kein Problem damit. Im Unterschied zu Krimis, wo täglich eine Frauenleiche zum Dessert serviert wird, macht die Telenovela Frauen Mut, setzt auf ihre Stärken und schafft positive Vorbilder. Bei „Rote Rosen“ zum Beispiel ist die Heldin immer eine Frau um Vierzig, die an einem Wendepunkt ihres Lebens steht und neu anfangen muss. Die täglichen Geschichten kreisen um Beziehungsprobleme, Alltags- und Berufssorgen, Krankheit, Konkurrenz und Hoffnungen von Frauen aller Altersgruppen im Hier und Heute. Klar, Telenovelas bilden die Wirklichkeit nach, sie
transzendieren nicht, aber würde man den Bechdel-Test ansetzen, läge die Telenovela weit vorne. In Sachen Feminismus kann ich mich nur einen Disput erinnern. Die Protagonistin litt unter massiven Schuldgefühlen,weil sie nicht schwanger wurde. Das fand ich frauenfeindlich - Frauen ein schlechtes Gewissen machen, weil sie nicht schwanger werden können! Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit der Headautorin einigten wir uns, unsere Diskussion den Protagonistinnen in den Mund zu legen. Auf diese Weise wurde das Thema Schwangerschaft von allen Seiten beleuchtet.
„Rote Rosen“ läuft übrigens seit 16 Jahren, jeden Wochentag um 14:10. Über 3500 Folgen wurden bisher gedreht, im Juli 2022 geht die 20. Staffel an den Start.
Rent A Rentna
Endlich in Rente! Ich stürze mich in die Freiheit. Wörter wie Narrativ und Storytelling bestimmen jetzt den Diskurs, ich aber habe genug vom Geplapper. Bloß nicht mehr reden, analysieren, begründen, Recht haben müssen. Lieber schauen, hinschauen. Ich lasse mich durch die Straßen treiben, entdecke die Schönheit des letzten Drecks und fange an, zu fotografieren. 2011 ermöglicht mir Beatrice Stammer für ein Wochenende meine ersten Arbeiten in ihrem Atelier zu zeigen. „fast nichts“ lautet der Titel. Auch Renate Roginas unterstützt mich erneut. In ihrer Villa Kult zeige ich abstrakte Fotokunst in einer Einzelausstellung mit dem Titel „was bleibt“. Wie eine Studentin lasse ich alles zu, probiere weiter aus, betrete neues Terrain. Performance nennt man jetzt soziale Spekulation, ich entwickle ein Konzept und nenne es „Rent a Rentna“.
Vier Rentnerinnen sitzen in einem Schaufenster und warten auf Kunden, die ihre Dienste buchen wollen. Beim Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“ zählen wir zu den Favoriten. „Followship“, das nächste Projekt, wird ebenfalls für „48 Stunden“ ausgewählt. 2019 sind wir damit sogar zur Eröffnung des neuen Berliner Museums „Futurium“ eingeladen. Danke noch einmal an die geniale Christiane Hütter, die unser gemeinsames Konzept damals vom Kopf auf die Füße gestellt hat. Ohne sie wäre nichts gelaufen!
2022, im dritten Jahr der Pandemie, ich lebe noch. Wieder einmal führt mein Weg an der Bleibtreustraße 48 vorbei. Vom Balkon unserer ehemaligen Redaktionsräume weht die Ukraine-Flagge. Seit Beginn des Krieges vor knapp drei Wochen sind 3 Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet. 160.000 von ihnen sind in Deutschland registriert. (Handelsblatt 14. 3. 2022). Die meisten sind Frauen und Kinder. Während ich diesen Gedanken nachhänge, bleibt plötzlich die Zeit stehen und ich sehe uns um den Redaktionstisch sitzen, wir besprechen die Themen für eine Sonderausgabe der Courage zu Putins Krieg gegen die Ukraine. Ich schlage ein Interview mit einer ukrainischen Frau vor, die am Berliner Hauptbahnhof der Einladung eines netten Mannes gefolgt war, in seiner Wohnung zu nächtigen. Als er dafür sexuelle Dienstleistungen einfordert, schaltet sie unauffällig ihr Smartphone an, um seine Anmache aufzuzeichnen. Per WhatsApp informiert sie die zuständige Hilfsstelle. Bald darauf klingeln zwei uniformierte Polizistinnen an seiner Tür, der Mann muss die Frau gehen lassen. Später stellt sich heraus, dass die Polizistinnen nicht echt waren, sondern Mitglieder einer feministischen Widerstandsgruppe, die für Frauen in Not via WhatsApp immer erreichbar sind. Sie nennen sich „Die Rote Zora“, nach der feministischen Gruppe, die in den 1970er Jahren Sex-Shops gestürmt hat. Das Interview, das ich später mit ihnen mache, führt mich zurück in die Gropiusstadt…
„Nicht träumen!“ Eine Frauenstimme reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist Frau Krapp, eine etwas schroffe Dame um Achtzig, sie ist die Titelheldin meiner neuen Geschichte. Auf dem Weg ins Café gesteht sie mir ihre neueste Leidenschaft. Ich staune nicht schlecht - Frau Krapp geht tanzen!
Danksagung
Kein Leben ohne Freundinnen, Mentoren, Herausforderer und andere Helfermenschen! Euch allen gilt mein Dank, dass ihr mich unterwegs in meinem Leben begleitet, gestützt und ermutigt habt:
Christa Chrille Müller, Sigrid Fronius, Gudula Lorez (+), Prof. Dr. Barbara Duden, Dr. Ivan Illich, Prof. Dr. Cillie Rentmeister, Cristina Perincioli, Marianne Gassner, Lutze, Gesine Strempel, Dr. Gerhard Schmid, Sema Poyraz, Manfred Stelzer (+), Ruth Wohlschlegel, Agnieszka Holland, Gebhard Henke, Dr. Dietger Bansberg, Susanne Schneider, Dr. Bernhard Gleim, Renate Roginas, Peter Henning, Beatrice Stammer, MatlFindel, Katharina Bellena, Heike Hempel, Peter Umbsen, Jindrich Mann, Margarethe Thobe, Martina Brunotte, Christiane Hütter, Eva Strasser und Elke Weber-Moore.
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